Kinder der Stürme
nicht vorbei. Ich erinnere mich, daß du mir einmal sagtest, wir, die Flieger, seien deine Familie. Und wir sind es noch. Es ist verrückt, dich so auszuschließen. Komm zurück. Du brauchst uns, und wir brauchen dich. Du gehörst nach Holzflügelohne dich wäre es nie entstanden. Du darfst ihm jetzt nicht den Rücken kehren.“
„Das verstehst du nicht“, sagte Maris. „Wie solltest du auch. Du kannst ja noch fliegen.“
S’Rella ergriff Maris’ Hand, ohne daß diese Geste erwidert wurde.
„Ich versuche es zu verstehen“, sagte sie. „Ich weiß wie sehr du leidest. Glaub mir, seit ich von deinem Unfall hörte, habe ich versucht mir vorzustellen, wie mein Leben aussähe, wenn ich verletzt wäre. Wie du weißt, war ich selbst ein Jahr an die Erde gebunden, von daher habe ich eine Ahnung, aber natürlich brauchte ich nicht davon auszugehen, daß dies ein Dauerzustand blieb. Alle müssen darüber nachdenken. Für jeden Flieger kommt einmal das Ende. Manchmal kommt es im Wettkampf, manchmal durch eine Verletzung und oftmals aufgrund des Alters.“
„Ich habe immer gedacht, ich würde daran zugrunde gehen“, sagte Maris ruhig. „Ich habe nicht geglaubt, daß ich ohne zu fliegen weiterleben könnte.“
S’Rella nickte. „Ja, ich weiß“, sagte sie. „Aber nun ist es geschehen, und du mußt dich damit abfinden.“
„Das tue ich“, sagte Maris. „Das habe ich getan.“ Sie zog ihre Hand weg. „Ich führe hier ein neues Leben. Wenn du nicht gekommen wärst, wenn ich nur vergessen könnte …“ Sie sah einen Ausdruck von Schmerz in S’Rellas Gesicht und wußte, daß sie ihre Freundin verletzt hatte.
Aber S’Rella schüttelte den Kopf und sah entschlossen aus. „Du kannst es nicht vergessen“, sagte sie. „Das ist hoffnungslos. Du mußt weitermachen, du mußt das tun, was du kannst. Komm und unterrichte in Holzflügel. Bleib bei deinen Freunden. Wenn du dich hier versteckst, machst du dir etwas vor …“
„Nun gut, dann mache ich mir eben etwas vor“, sagte Maris barsch. Sie stand auf, ging ans Fenster und tat so, als sähe sie hinaus. Als sähe sie das feuchte verschwommene Braun und Grün, als betrachtete sie den Wald. „Ich brauche diese Täuschung, um weiterleben zu können. Ich könnte es nicht ertragen, ständig das zu sehen, was ich verloren habe. Als ich dich in der Tür stehen sah, konnte ich nur an deine Flügel denken. Ich wünschte nur, sie umzuschnallen und davonzufliegen. Ich glaubte, ich hätte aufgehört daran zu denken. Ich dachte, ich wäre hier seßhaft geworden. Ich liebe Evan, und als seine Assistentin lerne ich eine ganze Menge. Ich tue etwas Nützliches. Ich genieße es, Coll um mich zu haben und die Bekanntschaft seiner Tochter zu machen. Aber der Anblick eines Flügelpaares wischt alles fort und verwandelt mein Leben in Staub.“
Schweigen erfüllte die Hütte. Schließlich drehte sich Maris um und sah S’Rella an. Sie sah die Tränen im Gesicht ihrer Freundin, aber sie sah auch den Ausdruck dickköpfiger Mißbilligung.
„In Ordnung“, sagte Maris seufzend. „Sag mir, daß ich mich irre. Sag mir deine Meinung.“
„Ich denke“, sagte S’Rella, „was du tust, ist falsch. Ich denke, daß du es dir, auf lange Sicht betrachtet, schwerer machst. Du kannst dein Leben nicht auswischen, als hätte es nie existiert. Du lebst nicht in einer Welt ohne Flieger. Du kannst dich hier verstecken und so tun, als seist du die Assistentin eines Heilers, aber du kannst niemals vergessen was du warst, daß du eine Fliegerin bist. Wir brauchen dich immer noch – es gibt noch ein Leben für dich. Du kommst noch nicht mit der neuen Situation zurecht – du stellst dich ihr nicht. Komm nach Holzflügel, Maris.“
„Nein, nein, nein. S’Rella. Ich könnte es nicht ertragen. Vielleicht hast du recht, vielleicht ist es falsch, was ich tue, aber ich habe darüber nachgedacht, und es ist die einzige Möglichkeit für mich. Ich muß vergessen, was ich verloren habe, oder ich werde verrückt. Du verstehst das nicht, ich könnte es nicht ertragen zu sehen, wie alle um mich herum fliegen und die Luft genießen und zu wissen, daß ich nie mehr mit ihnen fliegen könnte. Für immer an meinen Verlust erinnert zu werden, das kann ich nicht. Holzflügel wird auch ohne mich überleben. Ich kann nicht dorthin zurückkehren.“ Sie schwieg und zitterte vor Furcht und vor der erneuten Erinnerung an ihren Verlust.
„In Ordnung“, sagte S’Rella liebevoll. „Ich will dich nicht unter Druck
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