Kinder der Stürme
schuldig, daß wir es offen aussprechen und sie öffentlich für ihre Tat brandmarken“, sagte Corm. Er wandte sich Maris zu und blickte sie abschätzend an. „Maris, ich klage dich des Schwingendiebstahls an. Ich ersuche die Flieger von Windhaven, die hier versammelt sind, dich zu ächten und zu geloben, daß niemand unter ihnen je auf einer Insel landen wird, auf der du dich niedergelassen hast.“
Er setzte sich. In der eisigen Stille, die seinen Worten folgte, wurde Maris bewußt, wie sehr sie ihn verletzt hatte. Sie hätte nie damit gerechnet, daß er auf eine derart harte Strafe pochte. Er begnügte sich nicht damit, die Flügel zurückzuverlangen, er stellte ihr Leben in Frage, indem er ihre Verbannung auf eine ferne Felseninsel forderte.
„Maris“, sagte Jamis freundlich. Sie hatte sich noch nicht erhoben. „Du bist an der Reihe. Willst du Corm antworten?“
Sie stand langsam auf. Sie wünschte sich die Kraft eines Sängers und die Sicherheit, mit der Corm gesprochen hatte. „Ich kann den Diebstahl nicht leugnen“, sagte sie und schaute hinauf zu den Reihen ausdrucksloser Gesichter, dem Meer von Fremden. Ihre Stimme klang fester, als sie erwartet hatte. „Ich habe die Flügel aus Verzweiflung gestohlen, weil sie meine einzige Chance waren. Ein Boot wäre viel zu langsam gewesen, und auf Amberly wollte mir niemand helfen. Ich mußte einen Flieger finden, der die Versammlung für mich einberief. Sobald dies geschehen war, habe ich die Flügel übergeben. Das kann ich beweisen, falls …“ Sie blickte zu Jamis hinüber. Er nickte.
Das war Dorreis Stichwort. Er erhob sich aus einer der mittleren Reihen. „Dorrel von Laus“, sagte er laut und deutlich. „Ich verbürge mich für Maris. Gleich nachdem sie bei mir angekommen war, gab sie mir die Flügel in Verwahrung und hat sie nicht wieder getragen. Ich bezeichne das nicht als Diebstahl.“ In seiner Nähe wurde zustimmendes Geflüster hörbar. Seine Familie war bekannt und angesehen. Sein Wort hatte Gewicht.
Maris konnte den ersten Punkt für sich verbuchen. Sie fuhr fort und wurde mit jedem Wort sicherer. „Ich wollte, daß die Versammlung über etwas entscheidet, das ich für uns und unsere Zukunft als sehr wichtig erachte. Aber Corm ist mir zuvorgekommen.“ Unbewußt schnitt sie eine leichte Grimasse. In dem weiten Rund der Zuhörerschaft bemerkte Maris das Lächeln einiger Flieger, die sie nicht kannte. Skepsis? Verachtung? Oder Beistand, Einverständnis? Sie zwang sich, ihre ineinandergelegten Hände zu trennen und die Arme seitlich hängen zu lassen. Vor allen die Hände zu ringen war taktisch unklug.
„Corm sagte, ich bekämpfe die Tradition“, fuhr Maris fort, „und das ist wahr. Er hat es als verwerflich dargestellt, aber er hat es nicht begründet. Er hat nicht erklärt, warum die Tradition gegen mich verteidigt werden muß. Nur weil etwas immer in den gleichen Bahnen verlief, heißt das noch lange nicht, daß man es nicht ändern kann oder eine Veränderung in keinem Fall wünschenswert ist. Sind die Mensehen auf dem Heimatplaneten der Sternensegler geflogen? Und wenn nicht, ist es dann nicht besser, auch nicht zu fliegen? Nun, wir sind keine Daubervögel, die ihre Schnäbel auf den Boden richten und immer weiter laufen, bis sie tot umfallen – wir müssen nicht jeden Tag den gleichen Weg gehen – solch ein Verhalten steckt nicht in unserer Natur.“
Sie hörte das Lachen ihrer Zuhörer und fühlte sich bestärkt. Auch sie konnte mit ihren Worten Bilder malen. Genau wir Corm! Die dumm watschelnden Höhlenvögel hatten in der Vorstellung ihrer Zuhörer Lachen ausgelöst. Sie hatte vom Brechen der Tradition gesprochen, und trotzdem hatte man ihr zugehört. Ermutigt machte sie weiter.
„Wir sind Menschen, und wenn wir überhaupt einen Instinkt besitzen, dann ist es der Instinkt – der Wille – zur Veränderung. Alles ändert sich ständig, und wenn wir klug sind, führen wir lieber selbst die Änderungen herbei, bevor wir zur Veränderung gezwungen werden.
Der Brauch, die Schwingen von Generation zu Generation zu vererben, hat sich lange Zeit bewährt. Mit Sicherheit ist er besser als Anarchie oder der alte Brauch, die Schwingen im Kampf zu erringen, wie es auf den Östlichen Inseln während der Tage der Sorge üblich war. Aber er ist bei weitem nicht die einzige Möglichkeit oder gar die beste aller Möglichkeiten.“
„Genug Gerede!“ schimpfte jemand. Maris sah sich nach dem Zwischenrufer um und war überrascht, als sie
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