Kinder des Donners
sich weiterwagte. Wenn man im richtigen Winkel in ihn hineinblickte, konnte man jeden darin sehen, der auf der anderen Sei-
te des Fensters stand. Mary blieb genau an der richtigen Stelle stehen und wurde mit der Ansicht eines Mäd- chens belohnt, das etwa im gleichen Alter wie sie selbst war und — nach dem, was das Fenster zeigte, also Kopf und Schultern — ihr äußerlich ziemlich ähnlich sah.
Es läutete ein drittes Mal, voller Ungeduld.
Sie hatte in einer dumpfen Ahnung wieder mal je-
manden von der Schule erwartet, der sich über ihre Schwänzerei beschweren wollte, und als zweitwahr- scheinlichste Möglichkeit eine von ihren Mitschülerin- nen — nicht daß sie sich mit einer von ihnen angefreun- det hätte, und kaum jemand hatte Lust, sie mehr als einmal zu Hause zu besuchen, was ein Hauptgrund für ihre Niedergeschlagenheit in letzter Zeit war. Die Vor- stellung, daß eine Fremde sie besuchen kam, entfachte in ihr eine unerklärliche Erregung. Sie beeilte sich, die Tür zu öffnen.
Und sah nicht das Mädchen vor sich, dessen Anblick sie erhascht hatte, sondern einen Jungen. Der sagte: »Du bist Mary Gall. Das erkenne ich gleich. Ich bin Da- vid Shay. Das ist Crystal Knight.«
Crystal trat in den Schutz des überdachten Eingangs. Ihre Haare waren kurz geschnitten, und sie trug eine aufreizend geschnittene Jacke, auf deren Vorderseite ein kreuzweise geschnürtes rotes Elastikband ihre Brüste einrahmte und hervorhob, und dazu eine enganliegen- de schwarze Hose mit verstreuten gelben Kullern: mo-
discher Firlefanz, auf den Mary immer neidisch gewe- sen war, den sie jedoch nie zu tragen gewagt hatte, da
man ihr in der Schule das Leben auch so schon ausrei- chend schwer machte. Sie sagte, und zwar nicht zu Ma- ry, sondern zu David: »Kein Problem. Keine Macht.«
Was?
Schwindelig und völlig verdutzt über diese knallharte
Feststellung, spürte Mary, wie ihr Kinn heruntersackte,
und sie hätte in einem unwillkürlichen Reflex die Tür zugeschlagen, wenn David nicht ihre Hand ergriffen und sanft gesagt hätte: »Willst du uns bei diesem Regen nicht hereinbitten?«
Regen ?
Plötzlich war die Welt zu einem anderen Ort gewor- den, und Regen war etwas viel zu Gewöhnliches, um Wirklichkeit zu sein.
»Wer immer das ist, sag dem Gesindel, es soll abhau-
en!« schrie Edna aus dem Wohnzimmer. Die Worte wur- den von einem vertrauten platschenden und blubbern- den Geräusch begleitet: Eiswürfel, die in ein Glas plumpsten und mit Gin und nicht annähernd genug To-
nic bedeckt wurden. (Tonicwasser war sehr teuer ge- worden. Bis jetzt hatte noch niemand einen syntheti- schen Chininersatz auf den Markt gebracht, der billig genug gewesen wäre, um den Weg in den Leib der Ge- tränke-Mixer zu machen, und der echte Stoff ver- schwand mit den Regenwäldern.)
»Wir werden mit ihr fertig«, sagte Crystal überzeugt
und spazierte an Mary vorbei. David legte den Arm um sie und zog sie mit sich.
Als sie sich umblickte — sie hatten sich nicht die Mü-
he gemacht, die Tür zu schließen —, sah Mary den Wa- gen am Ende des Weges und einen Mann, der mit be- sorgter Miene unverwandt zum Haus starrte.
Doch sie hatte keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen.
Tatsächlich schien sie während der folgenden Minu-
ten überhaupt keine Zeit zu haben, um sich über irgend etwas Gedanken zu machen.
Der Regen hatte nachgelassen, als David und Crystal Mary zum Auto führten, wobei jeder einen Koffer voll mit ihren Habseligkeiten trug. Der Mann am Steuer stieg aus, um die hintere Tür für sie zu öffnen. David sagte: »Mary, das ist Harry.«
Harry nickte knapp zur Begrüßung. »Papiere?« raunte er nervös.
»Alles unterschrieben. Hier.« David warf ihm ein Bündel Dokumente in die Hand, und er schob sie in sei- ne Jackentasche.
»Was ist mit ... ah ... Mrs. Gall?«
»Zur Hölle soll sie fahren! Sie wird sich zu Tode sau- fen. Oder das Haus in Brand stecken, wenn sie beduselt
ist. Sie qualmt wie ein Schlot.«
»David, meinst du nicht, du solltest...?« »Es geht nicht ums >Sollen<«, blitzte der Junge zurück. »Das habe ich dir schon mal gesagt. Du hattest Gele- genheit, dir übers >Sollen< Gedanken zu machen — und hast sie verstreichen lassen. Jetzt bleibt also nur noch
das Müssen! Steig ein und fahr uns nach Hause!«
Sie sehen TV-Plus. Es folgen die Nachrichten.
Eine halbe Million Menschen in den Midlands wurden ge-
warnt, kein Leitungswasser mehr zu trinken, ohne es abzuko- chen. Letzte Woche wurden durch ein
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