Kinder des Donners
ob die Wirkung ihres >Charmes< vielleicht stärker war als seine. Er hatte sich vollkommen darauf eingestellt, Macht über andere
Menschen zu haben; die Vorstellung, daß andererseits jemand über ihn Macht haben könnte, gefiel ihm gar nicht. Trotzdem, wenn er so etwas wie Geschwister hät- te ...
Letzten Endes beschloß er, den Vorstoß zu wagen, al- lerdings mit größter Behutsamkeit, und vor allem wollte er die Idee, Suchanzeigen aufzugeben, die ihm ein Gei-
stesblitz eingegeben hatte, schnellstens in die Tat um- setzen.
Auf diese Weise kam er zu einer dritten Entdeckung und damit zu seinem ersten Durchbruch.
Er hatte eine Agentur ausfindig gemacht, die eine maximale Reichweite bei minimalen Unkosten anbot —
nicht, daß Geld eine Rolle gespielt hätte, natürlich nicht, und er zahlte den gesamten Betrag im voraus —, indem
sie Anzeigen in allen englischsprachigen Zeitungen von Irland bis Griechenland schaltete. Und zu seiner großen
Überraschung erhielt er ausgerechnet aus Irland die er- ste Antwort auf seinen mit Bedacht formulierten Auf- ruf.
Verwitwet, ihres einzigen Kindes beraubt, das den Pfad des Bösen eingeschlagen hatte, weil sich die Nonnen der Klosterschule geweigert hatten, die Wurzeln der
Schlechtigkeit, die sich unter den Schülerinnen ver- zweigten, auszurotten, und statt des jüngeren Mäd- chens, das eindeutig trotz ihres liebenswerten Wesens ein Ungeheuer sein mußte, ihre Tochter von der Schule gewiesen hatten, war Caitlins Mutter ständig darauf aus, jemanden zu finden, der ihre Geschichte glauben und Mitgefühl für sie aufbringen würde — und viel-
leicht irgend etwas unternähme. Irgend etwas ...
Zum dutzendsten Mal begann sie, die Einzelheiten
darzulegen.
Mit grüner Tinte auf rosafarbenem, parfümiertem Pa- pier und ohne Unterschrift.
Warum David den Brief ernst nahm, war ihm selbst nicht ganz klar. Schließlich kam er zu den Ansicht, daß er einfach einem Instinkt folgte, was er früher immer, manchmal sogar im Beisein anderer, geringschätzig ab- gelehnt hatte. Wie auch immer ...
»Wir reisen morgen nach Irland«, informierte er seine
Eltern beim Mittagessen, noch am selben Tag, an dem er den Brief erhalten hatte.
»Wie bitte?« — Harry und Alice in erstauntem Chor.
»Ihr habt doch gehört, was ich gesagt habe!« Er traute seiner Macht, die er seinen »Charme« nannte, immer mehr zu, und entsprechend barscher wurde sein Beneh- men. »Ich möchte dort jemanden treffen. Ein Mäd- chen.«
Sie entspannten sich und lächelten sich gegenseitig an — wie vorauszusehen gewesen war. Er hatte heraus- gefunden, daß es immer besser war, einen Grund zu nennen, der nachvollziehbar war. In einem oder zwei
Tagen wären sie überzeugt davon, daß das Ganze von
Anfang an ihre eigene Idee gewesen sei.
Alles lief so glatt, wie er es vernünftigerweise hoffen konnte. Nachdem er Dymphna kennengelernt und von ihr erfahren hatte, daß sie Waise war und nicht die Tochter des Ehemanns ihrer Mutter — das gab sie gleich in den ersten Minuten zu, obwohl sie leider keine Ah-
nung hatte, wer ihr wirklicher Vater war, und es nie-
manden mehr gab, den sie hätte fragen können —, ging sie sofort auf seinen Vorschlag ein, mit ihm zu kommen, um bei ihm zu leben.
Doch die Spuren eines letzten Rests von Widerstand
waren nicht beseitigt.
Harry und Alice erhoben keine offen geäußerten Ein- wände dagegen. Dymphna Clancy von ihrer Schule zu nehmen, genausowenig wie die Nonnen — obwohl ei-
nige ihrer Mitschüler in Tränen ausbrachen und darauf bestanden, mit ihr in Briefkontakt zu bleiben. Sein Charme reichte nicht ganz für so viele liebestolle Mäd-
chen gleichzeitig, doch einen Moment lang wünschte er
sich, er könnte sie alle mit nach England nehmen. Das wäre viel angenehmer, als Dienstboten einzustellen ...
Er war überzeugt davon, daß es eine richtige Ent-
scheidung von ihm gewesen war, hierherzukommen. Er brauchte Dymphna nur anzusehen, um zu wissen, daß
er und sie mehr gemeinsam hatten als das bloße Äu- ßere: die gleichen dunklen Haare, die gleichen dunklen
Augen, die gleiche etwas fahle, gelblich-braune Haut...
Endlich war er auf dem richtigen Weg!
Und sein Charme wirkte weiterhin, zumindest was Harry und Alice betraf. Das ging so weit, daß sie — ob- wohl sichtlich verstört durch die Tatsache, daß ihr (ihr!) Sohn auf dieser Reise nach Irland bestanden hatte, und
hin und wieder darüber grübelnd, wie er sie mit seinem Charme so bezaubert hatte, daß sie Papiere
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