Kinder des Feuers
Hals zu fallen und sie zu drücken, über ihr Gesicht zu streicheln und sie an den Schultern zu fassen.
Auch Maura war sichtlich gerührt. Fassungslos starrte sie Mathilda an, und ihre Augen füllten sich mit Tränen, als sie immer wieder stammelte: »Du lebst! Du lebst ja noch!«
Kurz wurden sie beide blind für die Schwestern, die ihr Wiedersehen neugierig bestaunten, kurz konnten sie nur immer und immer wieder das große Wunder heraufbeschwören, dass sie beide das Massaker von Saint-Ambrose überlebt hatten.
»Wie hast du dich nur retten können? Alle anderen sind doch jenen grausamen Kriegern zum Opfer gefallen!«, rief Mathilda.
»Ich habe mich in einem der Grubenhäuser versteckt, wo die Kartoffeln für den Winter gelagert wurden.«
»Und ich unter einem Strohballen.«
»Später habe ich gewagt, mein Versteck zu verlassen. Doch alle, auf die ich traf, waren tot.«
»Ich habe dich unter den Leichen gesucht.«
»Ich dich auch!«
»Wahrscheinlich bist du erst aus deinem Versteck gekommen, als ich schon in den Wald geflohen bin … mit Arvid.«
Mathilda errötete, als sie den Namen aussprach, gewiss, dass sich die einstige Freundin erinnern konnte, wie der junge Mann sie damals aufgewühlt hatte, und dass sie erahnte, welch festes und zugleich quälendes Band sich aus der gemeinsamen Flucht gesponnen hatte. Doch Mauras Wiedersehensfreude überwog ihre Neugier.
Wild redeten sie eine Weile weiter, klagten – sich in der Aufregung gegenseitig übertönend – über den Überfall, der sie auseinandergerissen hatte, berichteten schließlich, wie es ihnen seitdem ergangen war: Mathilda, wie sie sich hatte nach Fécamp durchschlagen können, Maura, wie sie ganz auf sich allein gestellt Zuflucht im nahen Männerkloster gefunden hatte. Der dortige Abt hatte dafür gesorgt, dass ein anderes Kloster sie aufnahm, doch die Schwestern dort waren sämtlich alt und wie schon berichtet kürzlich gestorben, ohne dass ausreichender Nachwuchs die Lücken füllte.
Als sie endlich ihre Erzählungen beendeten und die Blicke voneinander lösen konnten, bemerkten sie, dass sich die meisten der anderen Schwestern zerstreut hatten. Nur die Äbtissin war geblieben und die drei Nonnen, in deren Gesellschaft Maura angekommen war. Immer noch betrachtete die Äbtissin mit glitzernden Augen die Schätze des anderen Klosters, ehe sie verkündete, dass die fremden Schwestern mit Recht darauf gehofft hatten, bei ihr Aufnahme zu finden. Selbstverständlich stünde Sainte-Radegonde jeder offen, die ein ebenso einsames wie frommes Leben zu führen bereit und imstande sei.
»Doch ob wir nun ein Dutzend sind, die Hälfte oder doppelt so viel«, schloss sie mit mahnendem Blick auf Maura und Mathilda, »das Leben geht in gewohnten Bahnen weiter, und wir wollen uns vor überschäumenden Gefühlen, selbst wenn es schöne sind, hüten.«
Das Leben folgte tatsächlich vermeintlich gewohnten Bahnen, der Rhythmus der Tage änderte sich auch durch Mauras Eintreffen nicht, und die Arbeiten, die sie zu verrichten hatte, führte Mathilda weiterhin gewissenhaft aus. Dennoch hatte sich etwas geändert. Bis jetzt war es eine Lüge gewesen, am Leben von einst anknüpfen zu können – zu viel stand zwischen der Gegenwart und den Jahren in Saint-Ambrose. Wenn sie aber nun im Dormitorium neben Maura erwachte und beim Stundengebet in der Kapelle neben ihr saß, konnte sie sich wie die Novizin von einst fühlen, weltfremd, ängstlich und fromm. Es war, als würde sie in alte Kleider schlüpfen, von Flicken übersät zwar und eigentlich viel zu klein, aber vertraut genug, um sich darin wohl zu fühlen, und ausreichend, um die nackte Haut zu wärmen.
Seit dem Tag der Ankunft sprach sie nicht oft mit Maura. Eigentlich hatten sie wenige Gemeinsamkeiten – heute so wenige wie damals. Mathilda war stets die Ernsthaftere und Dienstbeflissenere gewesen, Maura die bequemere, die leichter Versuchungen erlag, sei es, das Gebet zu versäumen oder beim Essen unbotmäßig zuzulangen. Aber gerade das Trennende war ihr lieb, weil so vertraut, und das Verhalten, das Mathilda Maura gegenüber an den Tag legte – den Kopf zu schütteln, wenn sie lachte oder sie hartnäckig zum nächtlichen Gebet zu wecken, wenn sie sich schlafend stellte –, war das des jungen Mädchens von einst, das gern gehorsam war und andere zu ebendiesem Gehorsam anspornte.
Wenn Maura die Augen verdrehte, war es, als würde sie laut rufen: »Du hast dich überhaupt nicht verändert!«
Und wenn
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