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Kinder des Feuers

Kinder des Feuers

Titel: Kinder des Feuers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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ausdauernd knetete, passte sie in sämtliche Formen, auch wenn diese anfangs noch zu klein schienen. Gab es überhaupt etwas von Menschen Gemachtes, was sich nicht verbiegen, nicht brechen ließ, was jeder Lüge trotzte?
    Und war sie selbst noch aufrecht oder verbogen? Von Müdigkeit und Resignation?
    Plötzlich ging sie auf Hasculf los und hob ihre Hand, als wollte sie ihn schlagen. Sie tat es nicht, denn sie wollte seine Haut nicht spüren, die so fleckig und ledrig war wie ihre. Stattdessen schrie sie ihn an: »Was immer du von König Ludwig zu berichten weißt – es lässt mich nicht vergessen, dass du sie hast entkommen lassen. Wie konnte es dir nur passieren, nun schon zum wiederholten Mal!«
    Hasculf duckte sich kaum merklich. »Sie ist stark, sehr stark. Sie ist klug … geschickt … listig …«
    »Natürlich ist sie das, wie denn auch nicht? Das Erbe ihres Blutes lässt sich nicht leugnen.«
    Noch während sie sprach, hatte sie erneut die Hand gehoben, diesmal nicht, um Hasculf zu schlagen, sondern um sein Schwert zu ziehen. Es war so schwer, dass sie es kaum halten konnte.
    Hasculf verhinderte es nicht, aber trotzte ihrem Blick, als sie es ächzend hob. Eins musste man ihm lassen – er war zwar unfähig, Mathilda zu fangen, sah aber mutig dem Tod ins Gesicht.
    Viel Respekt rang ihr das dennoch nicht ab. Die Sprache, die er verstand, erschien ihr als erbärmlich schlicht: Ich habe einen Fehler gemacht, also muss ich bestraft werden. Ich bin gescheitert, also muss ich sterben.
    Wusste er denn nicht, dass es noch eine andere Sprache gab, von so vielen Menschen gesprochen und verstanden: Ich bin schwach, aber ich täusche mich durchs Leben, ich bringe nichts fertig, aber ich mache den anderen das Gegenteil vor, ich lüge so lange, bis ich selbst an die Lügen glaube.
    Wer diese Sprache verstand, fand es nicht heldenhaft, aufrecht in den Tod zu gehen, sondern dumm.
    »Du wirst Hasculf doch nicht töten!«, rief Bruder Daniel. Sein Gesicht wirkte entsetzt, seine Stimme jedoch so, als würde er gleich in Gelächter ausbrechen.
    Hawisa achtete nicht auf ihn. Mit einem Ächzen hob sie das Schwert, ließ es auf Hasculf niedersausen, zog es aber zurück, ehe es seinen Nacken traf. Sie taumelte, beinahe fiel sie unter der Last.
    »Glaub nicht, ich wäre gnädig«, geiferte sie, »aber ich habe zu wenige Männer, um auf einen zu verzichten, schon gar nicht auf dich. Geh!«
    Hasculf blieb stehen. Von einer Frau getötet zu werden erschien ihm offenbar als geringere Schmach, als vor ihr zurückzuweichen.
    Da ging Hawisa selbst von dannen, ehe sie den eigentlichen Grund nannte, warum sie ihn verschont hatte.
    Für dich, dachte sie. Ich tue es alles für dich …
    Hasculf war der Neffe des Mannes vom Drachenschiff. Sie konnte niemanden töten, in dessen Adern sein Blut floss.
    Sie atmete tief durch, versuchte, nicht an ihn zu denken, nicht an Hasculfs trotziges Gesicht, nicht an Mathilda.
    Stattdessen dachte sie an Richard, Wilhelms Sohn, gefangen in Laon. Vielleicht hatte es sein Gutes, wenn er starb. Dann würde Ludwig zwar umso schneller in die Normandie einmarschieren und folglich auch ins Cotentin, aber sie könnten noch mehr Getreue um sich sammeln – nicht mehr nur Heiden, die Freiheit erstrebten, sondern auch Christen, die Richards Tod nicht ungesühnt würden hinnehmen wollen.
    Es war ein brauchbarer Plan, der allerdings erforderte, sich einmal mehr aufs Abwarten zu verlegen.
    Hawisa hörte hinter sich ein Klirren, Hasculf hatte sich gebückt und das Schwert ergriffen, mit dem sie ihn fast getötet hatte. Anstatt es wieder in die Scheide zu stecken, warf er es weit von sich, zu stolz, fortan eine Waffe zu führen, die von den Händen einer Frau beschmutzt worden war.

VI.
    945
    Der Alltag im Kloster Sainte-Radegonde glich jenem von Saint-Ambrose, nur dass man anders als dort beim Chorgesang das Meer rauschen hörte. An stürmischen Tagen glich es energischen Stimmen, die noch mehr Inbrunst beim Beten forderten. An ruhigen Tagen verkam es zu einem Flüstern – einem Echo der längst verstorbenen Schwestern gleichend, die hier einst gelebt und lange vor ihnen Gott gepriesen hatten. Mathilda mochte das Rauschen und das, wovon es kündete: dass sie nur eine von namenlos vielen war und dass einzelne Stimmen nicht zählten, sondern im Chor untergingen. Rasch hatte sie sich im Kreis der Mitschwestern eingefügt und wurde von ihnen so behandelt, wie es von Menschen zu erwarten steht, mit denen man das Ziel teilt,

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