Kinder des Feuers
Mathilda daraufhin eine noch strengere Miene aufsetzte, war es, als würde sie sagen: »Das stimmt, ich bin die Alte.«
Überdies verzichtete Maura darauf, Mathilda nach den Jahren auszufragen, die seit der Zerstörung von Saint-Ambrose vergangen waren, und wie lange sie ihrerseits in Sainte-Radegonde lebte. Wenn sie gemeinsam die Vergangenheit heraufbeschworen, besannen sie sich nur so harmloser Tage, da sie bei der Magistra das Lesen und Schreiben gelernt hatten, von der Äbtissin Gisla über das Leben der großen Heiligen belehrt wurden oder gemeinsam die Latrinen schrubbten, um mit dieser entwürdigenden Arbeit die eigene Demut zu bekunden und den Glauben an einen gekreuzigten, geschundenen, verachteten Gott zu stärken.
Ein einziges Mal erlag Mathilda der Versuchung, tiefer zu bohren. »Weißt du eigentlich«, rührte sie an einer Frage, die in Saint-Ambrose nicht gezählt hatte, die sie in Sainte-Radegonde beharrlich zu vergessen versucht und die sie in den Jahren außerhalb des Klosters doch so oft zermürbt hatte, »weißt du eigentlich, warum ich als Kind ins Kloster gebracht wurde? Ich muss damals sehr klein gewesen sein, ich kann mich an das Leben davor nicht mehr erinnern.«
Maura runzelte die Stirn. »Was siehst du, wenn du mich anblickst?«
Mathilda zuckte die Schultern und wusste nicht, worauf die andere hinauswollte.
»Eine Schwester, die so alt ist wie du«, antwortete Maura schnell. »Warum sollte ich mehr Erinnerungen an damals haben?«
»Lebtest du denn selbst schon im Kloster, als ich dorthin gebracht wurde?«, fragte Mathilda. »Zumindest das musst du doch wissen! Wie alt warst du, als deine Eltern dich den Nonnen anvertrauten?«
Mit dem Eifer, endlich mehr zu erfahren, erwachten vage Erinnerungen. Die weinende Frau … die Angst, als sich das Tor schloss … die Mauern, die keinen sicheren Hort verhießen, sondern den Entzug von Freiheit.
Ich bin allein, ich bin verloren.
Mathildas Miene musste tief bewegt sein, denn plötzlich griff Maura nach ihrem Arm. »Mein Gott, Mathilda, was machst du dir nur für Gedanken?«
»Sag es mir!«, stieß Mathilda mit rauer Stimme aus. »Sag mir, was du über mich weißt!«
»Was soll ich denn wissen? Ja, ich glaube, du hast schon im Kloster gelebt, als ich dort eintraf. Ich kann mich an keinen Tag erinnern, an dem man dich mir nicht als Vorbild genannt hat. Du warst schon als Kind sehr fromm.«
Mathilda unterdrückte die Regung, den Kopf zu schütteln.
Ich war nicht fromm, ich war tieftraurig …
Sie war auch jetzt traurig, als sie erkannte, dass Maura ihr nichts Neues zu berichten wusste, sie schalt sich jedoch zugleich, dass sie am Geheimnis ihrer Herkunft gerührt hatte.
»Es ist nicht so wichtig«, sagte sie schnell.
Tagsüber gelang es ihr, selbst daran zu glauben. Aber in der Nacht, die dem Gespräch folgte, wurde sie nach langer Zeit erstmals wieder von wirren Träumen heimgesucht. Da war die Blumenwiese, auf der sie lief, da war der blonde Mann, der sie trug, da war plötzlich auch eine Frau, eine fremde Frau, die ihr eine Geschichte erzählte. Die Geschichte handelte von einem Drachen, der Feuer spie, und von einem Heiligen, Saint-Méen, der diesen tötete. Mathilda glaubte förmlich, des Drachens Feuer zu spüren … oder war es nur der heiße Atem jener fremden Frau, der ihr ins Gesicht blies? War es die Frau, die in ihren Erinnerungen so oft geweint hatte? Oder war es jene Hawisa, die sie töten wollte?
Sie erwachte, schlief wieder ein. Im neuerlichen Traum war der Drache noch größer, sie hatte Angst vor ihm, sie wollte nichts vom Drachen und Saint-Méen wissen.
»Ich will diese Geschichte nicht hören!«, schrie sie. »Ich will die Geschichte hören, die mir Vater erzählt hat.«
»Dein Vater kann dir keine Geschichte mehr erzählen. Dein Vater ist tot.«
»Nein, nein, nein!«
»Mathilda, hör mir zu! Ich weiß, er ist dein Vater, du hast ihn lieb, womöglich hatte er auch dich lieb. Und dennoch, es hat sein Gutes, dass er …«
»Nein, nein, nein!«
»Dein Vater konnte ein sehr böser Mann sein. Er hat großes Unglück über deine Mutter gebracht … ihr Leben hat so hoffnungsvoll begonnen, doch dann ist er gekommen … Sie würde es leugnen, sie richtet ihren Hass allein auf … sie , aber ich denke mir doch, dass …«
»Wo ist mein Vater?«, unterbrach Mathilda sie mit schriller Stimme. »Ich will zu meinem Vater!«
»Du bist ein hübsches Kind«, sagte die Frau. »Es fällt dir leicht, die Herzen zu gewinnen, auch
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