Kinder des Feuers
sein Herz von allem Irdischen zu lösen: höflich, aber gleichmütig.
Beim Erreichen dieses Ziels gab es natürlich auch hier alle Arten von Rückschlägen und Scheitern: Schwestern, die zu viel redeten, die Intrigen spannen, die heimlich naschten oder die in der Kapelle einschliefen. Mathilda zählte nicht zu ihnen, und anders als in Saint-Ambrose zeigte sie den Schwächeren gegenüber keine Verachtung, eher Neugier darauf, wie es sich wohl anfühlte, Sehnsüchten nachzugeben, und sei es nur auf ein zusätzliches Stück Käse. Sie selbst hatte diese Sehnsucht vor der Pforte gelassen und war erstaunt, dass sie sie nicht einholte, dass sie sich tatsächlich vormachen konnte, sie würde an ihrem einstigen Leben anknüpfen, nicht zuletzt, weil niemand da war, der bezeugte, dass die Enden der Fäden nicht zusammenpassten und der Knoten nur ein lockerer war.
Zwei Jahre waren seit Graf Wilhelms Tod vergangen – sehr langsam an Tagen, die gewohntes Gleichmaß boten, schneller an solchen, an denen es unter den Schwestern zu Diskussionen kam. Sie betrafen allesamt kein Thema, das Mathilda sonderlich bewegte, aber natürlich gab sie ihre Meinung zur Frage ab, ob ihre Gemeinschaft, so fern von der übrigen Welt gelegen, übliches Kirchenrecht außer Kraft setzen müsste, um die Seelsorge aller Schwestern zu gewährleisten – so, dass die Schwestern selbst beim Gottesdienst aus der Bibel vorlasen, was ansonsten nur Priester taten, oder die Äbtissin die Jungfrauenweihe erteilte. Längst zur Gewohnheit geworden war, wenngleich das ebenso dem üblichen Gebot widersprach, dass die Nonnen nicht immer verschleiert waren und ganz selbstverständlich den Altarraum betraten.
Mathilda scheute diesen anfangs noch, fühlte sie sich doch nicht nur als Frau zu unwürdig dazu, sondern obendrein als eine, die gemessen an den Mitschwestern eine Sünderin war. Doch schließlich übernahm sie die Gesinnung der unaufgeregten Äbtissin, einer Frau ohne sonderliche Weisheit, aber einer guten Menschenkennerin: Wo es weit und breit kein Männerkloster gab und Besuche von Priestern selten waren, müsse man aus der Not eine Tugend machen, nicht über die Einsamkeit klagen, sondern sie als Freiheit begrüßen, die Gesetze der Welt einhalten, so sie hier Sinn ergaben, ansonsten aber neue benennen. Warum auf Strenge setzen, wenn Weltabgeschiedenheit doch jeden aufrührerischen Geist von selbst zermürbte.
Mathilda lernte diese Nüchternheit zu schätzen. Gemeinsam mit Stille und Gebet vertrieb sie aufwühlende Gedanken und grässliche Erinnerungen – so an die beiden Mönche, die sie ursprünglich hierher hätten begleiten sollen und die einen grausamen Tod gestorben waren. Manchmal träumte sie von ihnen, auch von Hasculf und von jenen Stunden, da ihr eigenes Leben bedroht wurde. Doch die Träume wurden seltener, vor allem, als sie eine der alten Mitschwestern in Frieden sterben sah und sich innewurde: Hier war sie nicht vorm Tod sicher, doch in diesen Gemäuern sog er den Lebensatem schleichend aus kränkelnden Weibern und kam nicht mit Schwert und Gewalt. Hier begann die Lebenskerze langsam zu flackern und wurde nicht von einem plötzlichen Windstoß gelöscht.
Wie in Saint-Ambrose war der Großteil des Tages dem Gebet geweiht, doch die Stunden dazwischen füllte sie mit einer anderen Tätigkeit als dort: Obwohl sie lesen und schreiben konnte, verrichtete sie keinen Dienst im Skriptorium, denn dort waren alle Plätze besetzt. Stattdessen entschied die Äbtissin kurz nach der Ankunft, dass sie im Kräutergarten arbeiten möge und somit auch in der Krankenstube, wo diese Kräuter zur Heilung und Kräftigung gebraucht wurden – nach dem Skriptorium der zweitbeste Ort, ihre Talente zum Nutzen der Gemeinschaft zu leben. Auch hierfür musste man lesen können – in alten Büchern nämlich, wo Rezepturen über Jahrzehnte gesammelt worden waren –, desgleichen schreiben, um neue festzuhalten. Vor allem bedurfte es guter Augen, um die vielfältigen Pflanzen auseinanderzuhalten, eines guten Gedächtnisses, um sich einzuprägen, was wogegen half, und nicht zuletzt junger Knochen, sodass es keine Schmerzen bereitete, stundenlang in der Erde zu wühlen, neue Pflanzen anzubauen und andere zu ernten.
Die Schwestern im Skriptorium mit ihren blau befleckten Fingern starrten verächtlich auf die dunklen Halbmonde unter ihren Nägeln, aber Mathilda, die in Saint-Ambrose noch entsetzt über solche Arbeit gewesen wäre, mochte sie. Selbst im Winter, wenn der
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