Kinder des Feuers
Kräfte aus ihrem geschundenen Körper zu ziehen. Kräfte, die sie brauchen würde, um es endlich zu erfahren: Nicht nur, wer ihre Mörderin war, sondern vor allem, warum diese sie töten wollte.
Maura hatte all die Jahre gewartet, sie hatte alle Rollen gespielt, die ihr abverlangt worden waren. Sie hatte im Kloster gelebt, sie hatte sich am Hof von Alanus Schiefbart aufgehalten, sie hatte als Hofdame edle Frauen nach Lyons und Rouen begleitet, um Mathilda nahe zu kommen. Sie hatte mit der Angst leben müssen, dass Hasculf ihr zuvorkommen und ihr eher habhaft würde – damals im Wald, wo Maura sie zum ersten Mal zu ermorden versucht hatte, und später an Graf Wilhelms Hof, wo sie zwei weitere Attentate verübte – eins auf dem Tuchmarkt, das andere in Lyons-la-Forêt. Und hier im Kloster hatte sie erst am Tag zuvor befürchten müssen, dass sich Mathilda – vom Wiedersehen mit ihr erschüttert – zu schnell an zu viel erinnerte.
Aber sie hatte auch gelernt, sich von der Angst nicht leiten zu lassen und stattdessen auf Geduld zu setzen. Am Ende hatte sie ein wenig mehr davon gehabt als Hasculf und überdies mehr Glück, zumal Mathilda ihr vertraute und sie hier, innerhalb der Klostermauern, nicht mit Mördern rechnete.
Mit schmalem Lächeln beugte sie sich über den leblosen Körper. Die Haare verbargen Mathildas Gesicht, und Maura war sich sicher, dass die Augen darunter starr und weit aufgerissen waren wie die eines Menschen, der vom Tod überrascht wurde.
Maura packte den schmalen Körper an den Schultern, wälzte ihn zur Seite und strich das Haar zurück. Wie merkwürdig … die Augen waren nicht weit aufgerissen, sondern geschlossen – noch zumindest.
Plötzlich nämlich öffneten sie sich, und der Blick hinter den Lidern war nicht starr. Blitzschnell schlossen sich Hände um Mauras Handgelenke und krallten sich fest. Es waren keine schwachen Hände. Und schwach war auch Mathildas Stimme nicht, als sie schrie: »Warum … warum du?«
Maura konnte ihr Entsetzen nicht verbergen, dass ihr ein schwerer Fehler unterlaufen war – ein weiterer von vielen. Damals im Wald, als sie mit dem Messer über ihr gestanden hatte, hatte sie nicht mit Gegenwehr gerechnet. In Bayeux und Lyons nicht mit Arvids Eingreifen. Und heute nicht damit, dass Mathilda nur ganz wenig aus dem Krug getrunken hatte, das Gift wohl zu leicht dosiert gewesen war und sie überdies listig genug, sie in eine Falle zu locken.
Aber sie durfte nicht scheitern! Nicht schon wieder!
Mit einem wütenden Aufschrei entriss sie Mathilda ihre Hände und stieß sie von sich. Das Gift war doch nicht spurlos an ihr vorbeigegangen. Mathilda fiel gegen den Tisch, krümmte sich, hielt sich den wohl schmerzenden Magen. Maura blickte sich nach einer Waffe um, hob schnell den zu Boden gegangenen Krug auf und setzte an, der anderen den Kopf zu zertrümmern. Im letzten Augenblick wich Mathilda zurück. Sie duckte sich und schlug Maura die Faust in den Magen. Es tat so weh, dass der Krug ihr entglitt.
»Du warst es!«, schrie Mathilda. »Du warst es all die Jahre. Im Wald mit dem Messer, auf dem Markt von Bayeux mit dem Wetzstein, später mit dem Gift. Ich dachte, Hasculf …«
Die Stimme ging in ein Keuchen über. Maura wusste – noch war ein neuer Angriff zwecklos, es musste ihr irgendwie gelingen, sie abzulenken, sie unvorsichtig zu machen.
»Du dachtest, Hasculf hätte es auf dein Leben abgesehen!«, höhnte sie. »Wie dumm du doch bist!«
»Aber …«
»Hasculf braucht dich doch noch! Sie … braucht dich doch.«
»Von wem sprichst du?«
Während sie sprach, suchten Mauras Augen kaum merklich den Raum ab, entdeckten hinten, in einem der Hängeregale, ein kleines Messer. Wahrscheinlich diente es für Gartenarbeiten und war für ihren Zweck zu stumpf, aber einen Versuch war es wert.
»Warum du?«, rief Mathilda. »Warum nur du! Du bist doch … warst doch meine Gefährtin?«
Maura umkreiste vorsichtig den Tisch, woraufhin Mathilda, die mit einem neuen Angriff rechnete, ihr auswich. Gut so, so kam sie näher an das Messer heran.
»Ich habe dich nie gemocht«, zischte sie. »Deinetwegen musste ich meine Mutter und meine Heimat verlassen und im Kloster leben. Es ging nicht anders, es war der einzige Weg, dich im Auge zu behalten – und zu verhindern, dass du zurückkehrst.«
»Wohin? In die Bretagne?«
Maura presste die Lippen zusammen und verlor keine Zeit mehr für Worte. Nur mehr eine Handbreit war sie vom Messer entfernt, nur mehr wenige
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