Kinder des Feuers
große Wüste gab und die Wüste trocken war. Als sie auf dem Weg gen Westen auf Bruder Daniel gestoßen waren, hatte es jedoch geregnet.
Der Mönch hatte tatsächlich geglaubt, sie könnten ihm kein Leid antun. Er dachte, er wäre vor ihrer Gewalt geschützt wie Magloire – ein großer Heiliger, den er verehrte und an den er nun Gebete richtete. Auf der Île de Sercq hatte dieser einst eine Abtei gegründet, und als sie von den Heiden angegriffen wurde, hatte er einen Stein von riesiger Größe hochgehoben, als hätte er kein Gewicht, und ihnen entgegengeschleudert. Nach seinem Tod kamen die Heiden wieder und wollten die Reliquien plündern, doch sein Sarg – mit kostbaren Juwelen besetzt – war so schwer, dass selbst sieben Nordmänner ihn nicht tragen konnten. Als ihre Erschöpfung ihre Gier besiegte und sie endlich aufgaben, war ihr Geist so verwirrt, dass sie sich gegenseitig töteten.
Ja, dies waren die Wundertaten des heiligen Magloire, die Bruder Daniel im Angesicht seiner Feinde heraufbeschwor. Es half ihm nichts. Niemand – weder der Heilige noch Gott selbst – schritt ein, um ihn zu retten, als Hawisas Männer ihn folterten. Die taten es nur, um Spaß zu haben, und Hawisa sah voller Überdruss zu. Sie wusste nicht, worin der Gewinn bestand, jemanden schreien zu lassen, bis es nicht länger menschlich klang. Die Lust, sich an der Not eines anderen zu weiden, um die eigenen Wunden, schmerzenden Glieder und durchnässten Kleider nicht zu spüren, hatte sie nie angetrieben. Zunächst ließ sie den Männern ihr Vergnügen. Dann schritt sie ein und befahl, den Mönch am Leben zu lassen. Die Jahre in der Einsamkeit und die erduldeten Qualen hatten ihn wahrscheinlich verrückt gemacht, aber er konnte lesen, schreiben, mehrere Sprachen sprechen und ihr darum nützlich sein.
Seit diesem Tag glaubte der versklavte Mönch nicht mehr an die Macht des heiligen Magloire. Vielleicht hatte er sogar den Glauben an Gott selbst verloren. Fromme Männer grinsten nicht wie er.
Derart in Erinnerungen versunken bemerkte Hawisa nicht, dass Hasculfs Bote sie erwartungsvoll anstarrte. »Falls ich zu Hasculf stoße – was soll ich ihm sagen? Soll ich …«
Das Möwengekreisch wurde immer lauter, die Worte gingen darin unter. Hawisas Hoffnung, ihr Ziel schnell zu erreichen, hatte sich zerschlagen, die Felsen aber sahen aus wie immer. Einmal mehr schienen sie ihrer zu spotten. Sie waren nicht nur erhabener und stabiler als jedes von Menschenhand erbaute Haus, sie trotzten überdies dem steten Auf und Ab des Lebens, jener schier endlosen Reihe von Verzweiflung und Freude und Hoffnung und Scheitern und Verzagen und Geduld.
»Arvid hat lange Zeit in Fécamp gelebt«, sagte Hawisa. »Wahrscheinlich wird er Mathilda dorthin bringen wollen, aber die beiden dürfen Fécamp auf keinen Fall erreichen. Hasculf weiß, was er zu tun hat.«
II.
In den nächsten Tagen gewöhnte sich Mathildas Körper an die Schmerzen, ihr Geist jedoch wurde vom Wunsch zu überleben ausgehöhlt und kannte keine Hoffnung und kein Klagen mehr, keine Angst und keine Trauer. Sogar die Sehnsucht nach ihrer engsten Vertrauten Maura schwand. Aber wenn auch nichts in ihrem Leben Mathilda darauf vorbereitet hatte, dereinst schutzlos und nur in Begleitung eines Mannes durch einen Wald zu irren, hatte sie doch eines im Kloster gelernt: um einer höheren Sache willen eigene Bedürfnisse zu unterdrücken und den eigenen Leib zu knechten, indem man fastete, auf hartem Boden schlief und Nächte im Gebet durchwachte – zum Gotteslob und Heil der eigenen Seele. Mathilda war stolz darauf, immer noch zu leben, zu atmen, Fuß vor Fuß setzen zu können und nicht länger vor Schmerzen und Hunger oder, wenn sie an Maura und ihre anderen toten Mitschwestern dachte, weinen zu müssen.
Im Kloster hatte sie auch gelernt, dass Gott den Menschen für fromme Taten belohnte – wenn auch erst im Himmel. Selbst wenn der Wille, sich durchzubringen, kaum als Verdienst gelten konnte – belohnt wurde sie trotzdem, und das schon auf der kalten, finsteren Erde.
Sie waren eine knappe Woche unterwegs, als sie inmitten des Waldes eines Tages auf das Heim eines Waldhüters stießen, klein und schief zwar, mit einem Dach aus fauligen Grassoden und einem verwitterten Zaun, aber trotz allem ein Haus und somit der Beweis, dass sie nicht ganz allein auf der Welt waren.
»Gott sei gelobt!«, stieß Mathilda aus. Auch Arvid schien erleichtert.
Sämtliche Vorsicht war mit einem Mal vergessen.
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