Kinder des Feuers
Sie wahrten nicht Abstand oder beobachteten, wer hier lebte, sondern stürmten auf das Haus zu, klopften an die Tür und riefen so verzweifelt um Hilfe, als machten ihnen nicht nur Hunger und Kälte zu schaffen, sondern als würden sie von einem gefährlichen Tier verfolgt werden.
Der Mann, der ihnen öffnete, war von großer, breiter Statur und ähnlich verwahrlost wie das Haus: Sein Bart hing ihm verfilzt über die Brust, sein Gesicht starrte vor Schmutz, und er hatte nur mehr zwei Zähne. Er blickte sie mit weit geöffnetem Mund an und schnappte nach Luft, aber er sagte kein Wort, um sie hineinzubitten. Allerdings verbot er es ihnen auch nicht, sondern wich ein wenig beiseite, sodass sie eintreten konnten. Kein behagliches Feuer wärmte die Stube, drinnen war es fast so kalt wie draußen, aber als Mathilda und Arvid um etwas zu essen baten, stellte er eine Schüssel vor sie auf den Tisch, in der sich eine zähe Masse befand, die man mit gutem Willen für einen Rübeneintopf halten konnte. Auch er war kalt und schmeckte wie Schlamm, aber Mathilda und Arvid schlangen ihn gierig hinunter.
Als die Schüssel leer war, richtete Arvid das Wort an den Waldhüter. »Kannst du uns sagen, wie wir nach Fécamp gelangen?«, fragte er.
Der Mann sagte weiterhin kein Wort, deutete aber in eine Richtung.
»Hab Dank!«, rief Mathilda.
Sie verbrachten die Nacht in der Hütte. Der Waldhüter machte weiterhin keine Anstalten, ein behagliches Feuer zu entzünden, sodass sie aneinandergeschmiegt wie unter den Bäumen schlafen mussten, um nicht zu erfrieren, aber am nächsten Tag stellte er erneut eine Schüssel Rübeneintopf auf den Tisch und reichte ihnen außerdem ein paar Kleidungsstücke – Mathilda eine fleckige Tunika, die viel zu groß war, nach Schweiß stank und die sie dennoch hastig über ihre Kutte zog, und Arvid ein Stück Maulwurfspelz, das er um die Schultern warf.
Nach ihrem Aufbruch fielen ihre Schritte schneller und beschwingter aus. Sie fühlten sich gestärkt vom vollen Magen, der Nacht unter einem Dach und dem Wissen, dass Gott der Allmächtige sie nicht aufgegeben hatte – warum sonst hätte er ihnen dieses Zeichen geschickt. Wieder und wieder sagte Mathilda vor sich hin: »Es wird alles gut.« Und diesmal war es keine leere Beschwörung, diesmal glaubte sie daran.
»Was glaubst du, wie weit es noch bis Fécamp ist?«, fragte sie, als die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hatte und ein wenig fahles Licht durch die kahler werdenden Bäume warf.
Arvid zuckte die Schultern. »Von Jumièges legt man zwei Tagesmärsche nach Fécamp zurück, von Jumièges nach Saint-Ambrose war ich mehrere Tage unterwegs. Aber das zählt nicht, schließlich bin ich erst verfolgt worden und dann verwundet.«
Arvid runzelte die Stirn. Seine Schritte waren nicht mehr beschwingt, etwas schien ihm Angst zu machen. Doch nicht nach Fécamp zu finden? Seine Verfolger hinter sich zu ahnen? Oder nicht zu wissen, wie es in Fécamp weiterging?
Mathilda wollte an keine dieser Ängste rühren, auf dass sie sich nicht auf sie übertrugen, so hielt sie größeren Abstand zu ihrem Begleiter als sonst. Auch als sie an diesem Abend rasteten, legte sie sich nicht neben ihn unter einen Baum, sondern suchte sich einen anderen. Das Moos, das hier wuchs, war weich, aber die Kälte, die vom Boden aufstieg, kroch ihr in alle Glieder, und sie zitterte wie Espenlaub. Arvid rief sie jedoch nicht zu sich, sondern rollte sich still zusammen und schlief alsbald ein, sodass sie allein mit ihren Gedanken blieb. Was wurde aus ihr, wenn sie Fécamp erreichten?
Eine Eule schrie, ein Fuchs streifte durch das Gebüsch, und das Laub der Bäume raschelte im Wind. Mathilda zog ihre Knie an das Gesicht, und endlich ließ das Zittern nach, die Müdigkeit wurde übermächtig.
Sie schlief ein und träumte von einer Blumenwiese am Meer. Es roch salzig, es war warm, und dort hinten, am Rand der Klippe, stand ein Mann, groß und blond. Sie lief auf ihn zu, er fing sie auf, presste sie kurz an sich, ehe er sie in die Luft warf. Und sie wusste, wusste es ganz sicher – solange sie von seinen mächtigen Armen gehalten wurde, gehörte die ganze Blumenwiese ihr, war ihr Leben heil und ihre Zukunft voller Verheißungen. Doch wenn die Arme sie losließen, wenn der Mann fortging, dann war sie nicht mehr geborgen, dann wartete etwas Grauenvolles auf sie.
Mathilda schreckte aus dem Schlaf und erstarrte. Wie im Traum stand eine Gestalt vor ihr, aber sie schien nicht die eines
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