Kinder des Feuers
keinem Menschen hatte Arvid jemals so viel Zeit verbracht wie mit Wilhelm, doch trotz der Nähe war es in den letzten zweieinhalb Jahren nie zu einem vertraulichen Gespräch gekommen, nie zum Bekenntnis von Ängsten und Gefühlen, nie zu Freundschaftsbeteuerungen. Nun gut, er konnte gern darauf verzichten. Wilhelm war zwar ein Mensch, den er hätte mögen können, Graf und Krieger, das schon, aber nicht herrschsüchtig und grausam, eher nachdenklich und immer voll leisem Hader, nicht das richtige Leben zu führen. Doch jener Hader rumorte auch in Arvids Seele – und während Wilhelm niemanden hatte, auf den er seine Unzufriedenheit richten konnte, gab er dem Grafen selbst die Schuld, dass er noch immer fern Jumièges leben musste.
»In Poitiers«, setzte Wilhelm unwillkürlich an, »jener Stadt, in der Werghaupt residiert und Gerloc künftig leben wird, gibt es viele Klöster.«
Arvid blickte ihn verwundert an – eine Frau wie Gerloc würde dieser Umstand weitaus weniger begeistern als die Pracht der künftigen Residenz.
»Nun, vielleicht lässt sich eines dieser Klöster überzeugen, einige Brüder nach Jumièges zu schicken, damit diese den Wiederaufbau vorantreiben können.«
Arvid musste sich beherrschen, nicht die Fäuste zu ballen. Wenn sich Wilhelm Sorgen um Jumièges machte, warum hielt er ihn dann an seinem Hof fest? Wusste er überhaupt, dass er nicht freiwillig hier war, sondern allein auf Wunsch des Abtes Godoin?
Sein Körper spannte sich an, seine Zunge wurde ganz trocken, aber er sagte nur: »Das ist ein guter Gedanke.«
Seine Stimme klang gepresst, Wilhelm entging jedoch wie so oft seine Wut. Vielleicht lag es daran, dass er keinen Menschen nahe genug an sich heranließ, um in die Schatten von dessen Seele zu lugen. Vielleicht hatte Arvid einfach zu gut gelernt, die Wut geheim zu halten, sich still und bescheiden zu geben. Nur manchmal – manchmal überkam ihn noch wie einst Godoin gegenüber das Bedürfnis, laut zu schreien, irgendetwas zu zerstören, auf jemanden einzuschlagen, egal, auf wen – ob Wilhelm, ob Bernhard den Dänen, ob Mathilda. Ja, als er nun an sie dachte, sehnte er sich plötzlich nicht länger danach, sie noch einmal an sich zu ziehen und zu halten wie am Morgen, sondern sie erst zu schütteln, dann mit aller Macht wegzustoßen, sodass sie taumelte, zu Boden ging und dort liegen blieb. Besser war es, die dunkelsten Seiten seines Wesens heraufzubeschwören, als jener Stimme in sich zu lauschen, die nach Wärme und Nähe und Liebe lechzte.
»Du begleitest mich nach Lyons-la-Forêt«, sagte Wilhelm.
Arvid senkte seinen Blick – erschüttert von seinen gewalttätigen Fantasien, zermürbt von Wilhelms Gewohnheit, stets über ihn zu bestimmen, anstatt je nach seinen Wünschen zu fragen, und verängstigt von dem Gedanken, dass nicht nur er mit Wilhelm reisen würde, sondern womöglich auch Mathilda mit Gerloc.
Gerloc redete so lange auf Mathilda ein, bis diese nachgab und bereit war, die Braut zu ihrer Verlobung zu begleiten. Zwei Wochen nach dem Markttag bestieg sie gemeinsam mit ihr die Kutsche, die im Hof wartete. Zu ihrer Erleichterung vernahm sie, dass Graf Wilhelm – begleitet von seinen Kriegern und Mönchen – schon früher aufgebrochen war.
»Ich wäre so gern dabei!«, rief eine helle Stimme neben ihnen, just, als sie das Gefährt bestiegen, das sie nach Lyons-la-Forêt bringen sollte.
Es war der kleine Richard, der erst von Gerloc, dann von seinem Paten, Botho dem Dänen, Abschied nahm. Letzterer würde mit einigen anderen Kriegern Gerloc begleiten – der künftige Erbe aber sollte im sicheren Bayeux bleiben.
Botho neigte sich mit gutmütigem Lächeln zu dem Knaben herab. »Ich werde dir hinterher von allem berichten, was sich in Lyons zugetragen hat.«
Richard nickte begeistert und wandte sich dann an Mathilda: »Und du«, rief er, »du musst es mir auch erzählen.«
Sie nickte, obwohl sie nichts erleben, nicht sehen und schon gar nicht später davon erzählen wollte. Es wäre besser gewesen, Sprota hätte mitfahren können, doch keiner der fränkischen Nachbarn würde je die Konkubine des normannischen Grafen empfangen. Mathilda hätte am liebsten die Augen geschlossen und erst wieder aufgemacht, wenn sie nach Bayeux zurückgekehrt wäre. Aber in dem Gefährt war es unmöglich, sie geschlossen zu halten. Es war ein mit Leder bespannter Holzwagen, dessen Felle am Boden nicht die Wucht der Radumdrehung mindern konnten, und diese blind zu ertragen hätte
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