Kinder des Feuers
war keine Sehnsucht mehr, nur Müdigkeit. »Dauert es dich so gar nicht, in die Fremde zu ziehen … und niemals wieder in die Heimat zurückzukehren?«, fragte sie.
Gerloc zuckte die Schultern und wandte sich ab. »In den nordischen Ländern verbleibt man in der Sippe des Vaters, wenn man heiratet. Doch hierzulande scheidet man mit der Hochzeit von seiner Familie. Und das ist gut so. Ich bin so froh, wenn ich die Normandie endlich verlassen kann. Ich bin so froh, endlich Fränkin zu werden, ganz und gar. Man wird mich in Zukunft als Wilhelm Werghaupts Frau sehen, nicht länger als Rollos Tochter.«
Wird man auch sehen, dass du blass bist und weniger als früher lachst?, fragte sich Mathilda, aber sie schwieg, wie sie fast fortwährend geschwiegen hatte. Nein, gab sie sich selbst zur Antwort, man wird es nicht sehen, weil man dich mit roten Wangen und lachend gar nicht kannte.
Wer mich wohl kannte, als ich ein Kind war … wer mich wohl liebte …
Gerloc schwieg eine Weile, dann fragte sie unvermittelt: »Willst du nicht mitkommen nach Poitiers?«
Das Ansinnen überraschte Mathilda. Schließlich kam es von einer, die stets betonte, dass sie alles und jeden hinter sich lassen wollte. Mathilda zählte sie offenbar nicht dazu – und kurz freute sie sich darüber, kurz verlockte es sie auch. Wenn sie mit Gerloc nach Poitiers ging, würde sie ihren Mörder vielleicht für alle Zeiten abschütteln können. Und nicht nur ihren Mörder, auch Arvid. Und wenn Gerloc vor dem Wissen fliehen wollte, wer sie war – die Tochter eines Nordmannes –, warum sollte ihr es dann nicht möglich sein, auch zu fliehen, nicht vor dem Wissen, wer sie war, sondern vor ihrem Unwissen?
Ja, sie könnte das Rätsel ihrer Herkunft ablegen wie alte Kleidung und sich ganz der Neugier hingeben, wer unter dieser Kleidung zum Vorschein kam.
Aber während Gerloc sie lauernd anblickte, ging Mathilda auf, dass sie nicht unbekleidet sein wollte. Sie wollte herausfinden, ob sie noch eine Kutte tragen konnte, deren Kratzen ihr nicht unangenehm war, und ob ihr Wunsch, Ordensschwester zu werden, noch Bestand hatte, oder ob er genauso vergiftet worden war wie sie beinahe.
Sie schüttelte den Kopf. »Das ist nicht mein Weg«, sagte sie schnell.
Sie hatte die Möglichkeit zur Flucht ausgeschlagen.
Hasculfs Augen folgten Mathilda, als sie zwei Tage nach der Verlobungsfeier an Gerlocs Seite Lyons-la-Forêt verließ. Viele Menschen hatten an der Festtafel, bei der einmal mehr nur die edelsten Speisen aufgetischt worden waren, teilgenommen, und inmitten jener Menschen ließ es sich gut verstecken. Die Normannen hielten ihn und seine Männer für Franken, die Franken für Normannen. Doch es war unmöglich gewesen, noch einmal nahe genug an Mathilda heranzukommen.
Das Gefährt entfernte sich, wurde winzig klein. Hier und heute würde er sie nicht mehr kriegen. Bald aber … sehr bald würden sich wieder viele Menschen versammeln, in deren Mitte der Einzelne ebenso wenig auffiel wie hier, Menschen, die feierten und lärmten und tranken und blind dafür waren, was sich unmittelbar vor ihren Augen zutrug. Und selbst wenn sie es merkten – das Verschwinden einer jungen Frau würde sie nicht sonderlich bekümmern. Keiner von ihnen würde wissen, welche Macht diese Frau in ihren Händen halten könnte.
Zu viel Macht für eine Frau, wie Hasculf befand. Er wollte jene Macht selbst …
Das Gefährt mit Mathilda verschwand endgültig aus Hasculfs Sichtfeld. Ja, hier und heute würde er ihrer nicht habhaft werden. Bald aber … sehr bald war die Hochzeit in Rouen.
Wochenlang dauerte es, Rouen für den großen Tag zu schmücken.
»Ganz Europa soll neidisch werden auf diese prunkvolle Hochzeit!«, erklärte Gerloc. »Und Wilhelm wird keine Kosten und Mühen scheuen!«
Mathilda war überzeugt, dass sie übertrieb. Gerloc war eine Frau, die sich mit Mittelmaß nicht begnügte und sich die Welt oft strahlender, üppiger und bunter redete, als sie in Wirklichkeit war. Doch sie musste feststellen, dass auch dem asketischen Wilhelm und dem nüchternen Bernhard viel daran lag, mit diesem Fest alle bisherigen Feierlichkeiten in den Schatten zu stellen – was weniger einer plötzlich erwachten Liebe zum Luxus und zur Verschwendung geschuldet war als dem Beweis, dass einer, der aus dem kalten Norden kam, nicht minder kultiviert war als seine fränkischen Nachbarn. Das wiederum hieß, dass er sich nicht mit Met betrank, sondern sich am feinen Wein aus dem Rheinland
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