Kinder des Feuers
nach dem Leben trachtet.«
Mathilda leckte sich über die trockenen Lippen, als sie an die säuselnde Stimme ihres Mörders dachte. Es ginge um die Zukunft eines ganzen Reichs, hatte diese Stimme zu ihr gesagt, es sei nicht ihre Schuld, dass sie sterben müsse, aber unvermeidbar. Wieder und wieder echoten diese Sätze in ihrem Kopf und wurden immer rätselhafter, je öfter sie sie heraufbeschwor.
»Er kann mir nicht helfen«, erklärte sie hart – um die Stimme zum Schweigen zu bringen und Arvid loszuwerden. In Wahrheit hatte er wohl Recht – es wäre besser, mit Wilhelm zu sprechen. Aber Arvids Ansinnen abzuweisen hieß, jene Kluft wiederherzustellen, die er eigenmächtig überwunden hatte, als er sie das Gift erbrechen ließ. »Ich weiß nicht, wer mir nach dem Leben trachtet und warum. Ich weiß nicht, wer ich bin. Um jemanden anzuklagen, muss man wissen, wo man ihn findet. Und um ihn zu finden, muss man wissen, wo man zu suchen hat. Ich weiß nichts, gar nichts.«
Mathilda umklammerte die Lehne ihres Stuhles, stützte sich darauf ab, stand schließlich auf. Die Welt drehte sich kurz, aber sie hielt sich aufrecht.
»Wohin willst du?«
»Du bist mit Graf Wilhelm hierhergekommen, ich mit Gerloc. Bei ihr ist mein Platz. Es gibt keinen Grund, warum sich unsere Wege noch einmal kreuzen sollten.«
Sie glaubte, in seinem Gesicht nicht länger nur Sorge zu lesen, sondern auch etwas anderes – Erleichterung. Vielleicht, weil sie gestärkt genug war, wieder eigenständig zu stehen. Oder weil sie ihn von der Pflicht befreite, sich noch länger um sie zu kümmern.
Sie wollte es nicht ergründen, sondern verließ eilig den Raum, in dem sie um ein Haar gestorben wäre.
Gerloc lachte immer noch kaum, aber redete wieder ohne Unterlass.
»Die Höhe der Mitgift ist nun vereinbart worden, noch heute Abend wird die Verlobung stattfinden«, erzählte sie Mathilda aufgeregt, als diese wieder zu ihr stieß, »und in einigen Wochen die Hochzeit in Rouen. Dann kann ich endlich mein rotes Kleid tragen.«
Mathilda starrte Gerloc an. Sie wirkte so blass, ein rotes Kleid würde sie noch blasser machen. Doch das hatte sie offenbar nicht bedacht – genauso wenig, wie sie wahrnahm, dass auch Mathilda kalkweiß im Gesicht war, ihre Stirn von kaltem Schweiß bedeckt, ihr Kleid voller Flecken, und dass sie nur trockenes Brot essen konnte. Eigentlich war Mathilda froh, dass sie nichts erzählen musste – nichts von dem Unbekannten, der versucht hatte, sie zu vergiften, nichts von Arvid.
»Zur Verlobungsfeier werde ich die Haare zu sechs Zöpfen flechten«, rief Gerloc, »und jeder Zopf wird von einem roten Band gehalten sein! Der Notarius wird zugegen sein, um die libelli dotis festzuhalten, die Brautgaben. Wilhelm Werghaupt wird mir Schuhe überreichen, als Zeichen, dass wir fortan gemeinsam die Wege des Lebens beschreiten.«
Sie sagte nicht, ob diese Schuhe rot waren wie das Kleid.
»Und er wird mir einen Ring übergeben«, fuhr Gerloc eifrig fort, »einen Ring aus Gold, den annulus fidei , als Zeichen, dass unsere Herzen nun im gleichen Takt schlagen.«
War es denn überhaupt möglich, dass Herzen im gleichen Takt schlugen? Hatten es ihr und Arvids Herz getan, als er um ihr Leben kämpfte?
Als Gerloc endlich geendet hatte, begann sie wieder von vorn. Diesmal hörte Mathilda nicht zu. Sie lehnte sich zurück, schloss die Augen, spürte Erschöpfung … und noch gewaltiger als diese eine Sehnsucht. Die Sehnsucht nach der Heimat, die sie verloren hatte. Von der sie ausgesperrt war. Vor der eine unüberwindliche Mauer stand, die Mauer von Saint-Ambrose.
All die Jahre hatte sie das Kloster für einen Zufluchtsort gehalten, doch die Erinnerung, die am Morgen in ihr erwacht war, bekundete, dass es, als sie dorthin gebracht worden war, als kleines Mädchen, das man schlug und quälte, bis es endlich aufhörte, bretonisch und dänisch zu sprechen, vor allem ein Gefängnis gewesen war.
Hatte sie geweint, als sie die Heimat verlassen musste? Oder war sie vor Schreck verstummt?
Sie wusste es nicht mehr – wusste nur: Jemand anderer hatte geweint … eine Frau …
»Leb wohl, meine Kleine, leb wohl …«
Womöglich war diese Frau ihre Mutter gewesen, die sie fortschickte, um sie vor … ihr zu schützen, jener mächtigen Feindin.
»Gleich nach der Hochzeit in Rouen werde ich an Wilhelm Werghaupts Seite nach Poitiers aufbrechen!«, tönte Gerlocs Rufen in ihre Erinnerungen.
Mathilda öffnete die Augen, die sie geschlossen hatte. Da
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