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Kinder des Feuers

Kinder des Feuers

Titel: Kinder des Feuers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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heimgesucht. Ganze Landstriche waren bereits ausgerottet, und die Eroberer aus dem Norden hatten erkannt, dass ein Land zu beherrschen nicht nur bedeutet, es zu zerstören, und dass man, will man es zu seinem machen, mehr mitbringen muss als den bloßen Willen zur Eroberung. Man muss Pläne haben, wie man es nach dem Blutvergießen wieder aufbaut und besiedelt.
    »Was gibt es denn nun Neues von Hasculf?«, fragte Dökkur.
    »Mathilda hat Bayeux tatsächlich verlassen und ist in Lyons-la-Forêt«, antwortete Hawisa. »Die Großen des Frankenreichs treffen dort zusammen.«
    Viele Menschen also, unter denen es welche geben konnte, die sie erkannten. Menschen auch, die sie von ihren Vertrauten weglotsen konnten, sodass sie schutzlos war …
    »Willst du sie etwa dort …?«, fragte Dökkur, brachte aber den Satz nicht zu Ende.
    »Warum nicht?«, gab sie zurück.
    »Was planst du für den Fall, dass sie zuvor ausplaudert, wer sie ist? Es wäre eine Katastrophe für dich.«
    »Eine Katastrophe für uns alle«, berichtigte sie ihn rasch. »Schließlich stehst du auf meiner Seite.«
    »Ich stehe auf der Seite meines Bruders.«
    »Der seit Jahren tot ist«, warf Bruder Daniel ein.
    Dökkur wollte ihn schlagen, aber traf nicht. Hawisa hob statt seiner die Hand und klatschte sie in Daniels Gesicht. Er zuckte nicht zurück, obwohl sie so fest zugeschlagen hatte, dass ihre Finger rote Spuren hinterließen. Aber was war schon sein Schmerz gemessen an dem ihren, den seine Worte in ihr auslösten. Ja, er war tot, ja, sie vermisste ihn jeden Tag, ja, sie fühlte sich oft so hilflos ohne ihn. Doch das wollte sie nicht hören. Wenn der Mantel des Schweigens darüber gebreitet war, klaffte die Wunde, die sein Verlust geschlagen hatte, nicht ganz so blutig.
    Sie schluckte. »Wir wollen hoffen, dass Hasculf nahe genug an sie herankommt.«
    Der Meerwind blies schärfer, Daniel rieb sich nun doch die schmerzende Wange, Dökkurs leere Augen glichen dunklen Löchern.
    Sie ritten weiter. Immer noch waren sie von Sand und Meer und vertrocknetem Gras umgeben. Unfruchtbar schien der Boden. Das Land glich weder ihrer Heimat noch dem einstigen Reich.
    Es war Niemandsland.

IV.
    Arvid wusste, wie sich jener Moment anfühlte, wenn man den Kampf ums Überleben aufgab, wenn die Schmerzen so unerträglich, die Qualen so groß wurden, dass man den gepeinigten Körper gern dem Tod zu opfern bereit war und sich einzig auf das Heil der unsterblichen Seele besann. So war es ihm ergangen, als er einst – von König Ludwigs Männern schwer verwundet – blutend vor dem Kloster Saint-Ambrose zusammengebrochen war. Und so erging es jetzt Mathilda in seinen Armen. Ihre verzerrten Züge glätteten sich, Friede breitete sich in ihrem Gesicht aus, den sie wohl noch nie in dieser Intensität gefühlt hatte.
    Sie mochte sich nach diesem Frieden sehnen – ihn deuchte er verlogen. Wie konnte es Frieden geben, wenn jemand zu jung starb und obendrein unschuldig gemordet wurde? Nein, er konnte nicht zulassen, dass sie starb.
    Arvid riss Mathilda hoch, umfasste sie mit einem Arm, drückte dann den Oberkörper nach unten und steckte seine Finger in ihren Mund.
    »Spuck es aus!«, schrie er panisch. »Du musst es ausspucken! Übergib dich!«
    Weich waren ihre Lippen gewesen, als er sie geküsst hatte, nun waren sie rau und kalt. Er tastete sich daran vorbei, fühlte Zähne, eine leblose Zunge, die geschwollen schien, fuhr mit den Fingern tiefer, bis in die trockene Kehle. Nie war er jemandem so nah gekommen. Nie war ihm dennoch etwas so selbstverständlich erschienen.
    Nur ein nackter Mensch, ging ihm durch den Kopf, kann den Tod besiegen. Allen Ballast muss er ablegen, alles, was ihn kleidet und wärmt und schützt, alles, was er fühlt: Scheu und Scham und Angst und vor allem den Hochmut, wie ihn Mönche oft haben, die auf Zehenspitzen durch die Welt wandeln und sich nicht in die Niederungen herablassen, wo es schmutzig ist und stinkt.
    Er hörte ein Stöhnen, als seine Finger noch tiefer tasteten, aus dem Stöhnen wurde ein Würgen, er zog die Hand nicht rechtzeitig zurück, als Mathilda sich erbrach. Zuerst kam Schleim, dann, als er auf ihren Rücken klopfte, folgte ein Schwall. Bitterer Geruch stieg ihm in die Nase. Sie hing nun in seinen Armen wie tot, aber er spürte, dass sie atmete.
    Noch schien es Arvid zu früh, Mathilda einfach wieder zu Boden zu legen. Er zerrte sie in den Hof und schüttelte sie, bis sie gierig die kalte, frische, belebende Luft einatmete.

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