Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kinder des Feuers

Kinder des Feuers

Titel: Kinder des Feuers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
Vom Netzwerk:
stark.
    Plötzlich wusste sie – auch damals, an jenem Tag, da ihre Welt zerbrochen war, hatte sie versucht, fortzulaufen. Auch damals hatte jemand sie mit unerbittlichem Griff festgehalten.
    Sie wollte auf der Blumenwiese bleiben, auch wenn keine Blumen mehr wuchsen. Sie wollte das Meer rauschen hören, auch wenn das Meer kalt war. Sie hatte gestrampelt, und sie strampelte jetzt, sie hatte gebissen, um sich getreten, gekeucht, sie tat es wieder. Damals wie heute hatte es keinen Sinn.
    »Hör zu, Mathilda«, hatte eine fremde Stimme gesagt, wie es ihr jetzt plötzlich einfiel, »ich würde es dir gern ersparen, aber ich kann es nicht. Ich muss dich vor … ihr verstecken. Sie … sie ist eine böse Frau. Sie hat einen Sohn, und für diesen Sohn würde sie alles tun. Ich kann nicht zulassen, dass sie dich mir wegnimmt, dich vielleicht sogar tötet. Sie hat mir schon so viel genommen, sie hat immer geglaubt, dass ihr mehr zusteht als mir.«
    Die Stimme aus der Erinnerung war gebrochen, jetzt sprach niemand zu ihr. Kurz löste sich zwar die schwielige Hand von ihrem Mund, aber dann wurde etwas Raues zwischen ihre Lippen gestopft, das alle Schreie dämpfte. Sie erschlaffte.
    Ich will nicht fort. Ich will zu Hause bleiben. Lass mich nicht allein.
    Ihr Flehen hatte nichts genutzt, und als sie den Blick des Mannes suchte, der sie festhielt, ahnte sie, dass es auch heute vergebens wäre. Sie kannte diese Augen nicht, aber sie war sich sicher, dass sie die ihres Mörders waren.
    Dieser Mann hatte die Krieger angeführt, die auf der Suche nach ihr das Kloster Saint-Ambrose überfallen hatten. Später im Wald hatte er sich mit der Klinge über sie gebeugt. Auf dem Tuchmarkt von Bayeux hatte er den Wetzstein auf sie fallen lassen, und in Lyons-la-Forêt wollte er sie vergiften. Vielleicht hatte er danach noch öfter versucht, sie zu töten, vielleicht hatte er nur einfach keine Gelegenheit mehr gefunden. Jetzt würde es nicht beim Versuch bleiben.
    Sie konnte ihm nicht länger in die Augen sehen, senkte den Blick, starrte auf das Schwert an seinem Gürtel, groß und schwer. Und auch wenn es klein und leicht gewesen wäre – es würde genügen, sie zu meucheln.
    Noch blieb es unberührt. Der Mann hob die Hand, griff nicht nach dem Knauf, sondern strich ihr über das Gesicht, über den Hals, über die Brust. Hatte er im Sinn, sie zu erwürgen?
    Sie wollte zurückweichen und erreichte durch die abrupte Bewegung nichts anderes, als dass der Knebel noch tiefer in den Mund geriet. Sie würgte.
    »Wenn du nicht schreist, befreie ich dich davon«, sagte er. Seine Stimme war so rau wie seine Haut.
    Tränen traten ihr aus den Augen, als sie nickte. Alles hätte sie ihm versprochen – wenn sie nur einmal noch tief Atem holen könnte, ehe sie starb, einmal noch in den Himmel starren, nicht in sein Gesicht. Er zog den Knebel aus ihrem Mund, sie würgte wieder, atmete dann, blickte zum Himmel. Sein Grau war hinter den Baumkronen verborgen. Als sie den Blick wieder senkte, streichelte er ihr ein weiteres Mal über das Gesicht, und ihre zarte Haut zerriss wider Erwarten nicht unter der Hand. Diese war schwielig, aber die Berührung nicht roh, sondern vorsichtig und … zärtlich.
    »Mein Name ist Hasculf.«
    Dass er sagte, wie er hieß – war es ein Zeichen dafür, dass er sie nicht töten würde? Oder wollte er sie beruhigen wie ein schreiendes Tier, das man solcherart leichter auf die Schlachtbank lockte?
    Sie schrie nicht, sie atmete ruhig, sie dachte: Solange er mich nicht tötet, bleibt Zeit zu fliehen.
    Seit Jahren hatte Hasculf sich überlegt, wie Mathilda sich wohl anfühlte. Seit Jahren hatte er keine Haut berührt, die so weich und zart war wie ihre, nicht rau und voller Schwielen. Gewiss, er hatte Frauen gehabt, verlebt und schweigsam allesamt, weniger von Lust in seine Arme getrieben als von Einsamkeit. Wenn sie irgendwo an der Küste zu warten gezwungen waren oder einmal mehr auf der Flucht, waren sie abends zu ihm ans Lagerfeuer gekommen, hatten ihren Rock hochgeschoben, die Beine gespreizt und sich auf ihn gesetzt. Sie hatten sich nicht die Mühe gemacht, zärtlich über sein Gesicht zu streicheln, und er hatte sich nicht die Mühe gemacht, seine Hand höher zu heben als bis zu ihren Brüsten. Schlaffe Brüste waren es meist, die zu viele Kinder genährt hatten, die gestorben waren. Vielleicht hatte er einige von ihnen selbst gezeugt.
    Unwillkürlich fragte er sich, wie ein Kind Mathildas aussehen würde. Würde es das blonde

Weitere Kostenlose Bücher