Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kinder des Feuers

Kinder des Feuers

Titel: Kinder des Feuers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
Vom Netzwerk:
verzichten musste, war so groß wie die Schmach, dass sie erneut vor ihm hatte fliehen können.
    Seit Jahren hatte sie es nicht mehr getan, dennoch fühlte es sich vertraut an – zu fliehen, zu laufen, alles Trachten darauf auszurichten, sich vor Feinden in Sicherheit zu bringen, ganz gleich, dass ihre Brust schmerzte, die Fußsohlen bluteten, die Erschöpfung wuchs. Sie hatte geglaubt, im Wasser ertrinken zu müssen, aber ehe sie sich aufgab, hatte sie Boden unter den Füßen gespürt und sich ans Ufer gerettet. Dann hatte sie geglaubt, im Winterwind zu Eis zu erstarren, doch das Blut war heiß durch ihre Adern geflossen. Als sie sich umdrehte, war nichts mehr von Hasculf und seinen Männern zu sehen, und inmitten der Panik fühlte sie Triumph.
    Sie lebte. Sie hatte den Mann überlistet, der sie töten wollte, und das nicht zum ersten Mal. Kurz wähnte sie sich als Herrin der Welt – kurz war sie sich sicher: Alles könnte sie wagen, und alles würde ihr gelingen.
    Erst nach einer Weile zeigte sich, dass es wenig half, Herrin der Welt zu sein. Diese Welt war menschenleer, und die Bäume würden sich nicht vor ihr verneigen. Zu leben hieß hier, allein zu sein und den Weg nicht zu kennen.
    Dennoch hörte sie nicht auf zu gehen. Sie wusste nicht wohin, sie hatte nichts zu essen, die nasse Kleidung haftete an ihrer Haut, aber sie konnte von der Erfahrung zehren, es schon einmal durch einen Wald wie diesen geschafft und in die belebte Welt zurückgefunden zu haben. Sie klammerte sich an die Hoffnung, es wieder zu schaffen – und an die Erinnerung.
    Die Stunden vergingen, es wurde Nacht, Tag, wieder Nacht. Sie fühlte ihre Füße nicht mehr und nicht die Kälte, fühlte nur, sie war nicht allein, Arvid war bei ihr. Nun gut, sie sah ihn nicht, sie hörte ihn nicht, aber sie konnte sich vorgaukeln, er wäre nur kurz unterwegs, um ein Tier zu erjagen oder trockenes Holz zu suchen. Bald würde er wieder zurückkehren, ein Feuer machen und das Fleisch braten.
    Irgendwann war sie so erschöpft, dass sie es zu riechen glaubte. Sie sah und hörte ihn immer noch nicht, aber sie fühlte seine Hände, wie sie ihren geschundenen Körper berührten und wärmten. Sie presste sich an ihn, schlief in seinen Armen ein, schreckte wieder hoch. Bilder stiegen vor ihr auf, sie konnte nicht unterscheiden, ob Träume oder die Wirklichkeit sie gebaren. Manche waren beglückend, manche waren schrecklich.
    Es wurde hell, sie erhob sich, sie ging weiter. Diesmal hörte sie Arvids Schritte, wie er neben ihr ging, hörte seinen Atem und seinen Herzschlag. Tief drinnen wusste sie, dass sie sich einer Täuschung hingab, aber es nicht zu tun, hieße zu sterben.
    Eines Tages hörte sie nicht nur den Wind rauschen, sondern Wellen gegen ein Ufer donnern. Das Licht wurde heller und hinter den Bäumen nicht nur der weite Himmel, sondern das Meer sichtbar.
    Am Meer zu leben war ebenso gefährlich wie einsam – es brachte Angreifer aus dem Norden und verhieß nichts als endlose Weite. Aber genau deshalb war dies ein Ort, an den sich fromme Menschen zurückziehen konnten, um mit ihrem festen Glauben den Gefahren und der Einsamkeit zu trotzen. Irgendwo hier hatten diese frommen Menschen das Kloster Sainte-Radegonde errichtet.
    Mathilda war überzeugt, dass sie in Richtung Osten gehen müsste. Woher diese Überzeugung kam, wusste sie nicht, vielleicht gab es ihr Arvid ein, der sie immer noch begleitete, vielleicht ging sie gar nicht nach Osten, sondern fortan im Kreis und war zu übermüdet und entkräftet, es zu bemerken. In jedem Fall ging sie und lebte sie, und irgendwann ragte in der Ferne ein Haus auf, und jenes Haus war aus Stein errichtet, ein Zeichen, dass hier nicht nur Menschen wohnten, sondern Gott.
    Sie stolperte über die eigenen Füße, fiel nieder, starrte eine Weile stumm auf das Gebäude. Sie tastete nach dem Ledersäckchen, das sie um die Brust trug, öffnete es und war erleichtert, dass der Inhalt noch heil war: ein Stück Pergament, das ihr den Besitz eines Stück Landes um Évreux zuschrieb. Gerlocs Gabe – und ihr Eintritt in dieses Haus aus Stein.
    Mathilda verschränkte die Hände zum Gebet. Sie sollte Gott für die wundersame Rettung danken, denn tief drinnen wusste sie, dass er sie hierher geführt hatte, nicht Arvid. Doch sie konnte nicht beten, nicht von Herzen. Von Herzen konnte sie nur bereuen, dass sie nach jener Nacht in der Kammer nicht mit ihm geredet hatte, dass sie nach Wilhelms Tod seinen Blick nicht gesucht hatte, dass

Weitere Kostenlose Bücher