Kinder des Holocaust
Verbindung zu bleiben, und durch ihn zur übrigen Welt.
»Der Zwangsneurotiker lebt in einer Umwelt des Zerfalls«, sagte Dr. Stockstill. »Das ist eine bemerkenswerte Erkenntnis. Denken Sie einmal eingehender darüber nach.«
»Dann müssen wir allesamt Zwangsneurotiker sein«, sagte Bonny Keller, »denn es ist Zerfall, was rings um uns herrscht ... oder nicht?« Sie lächelte ihm zu, und er mußte, ob er wollte oder nicht, ihr Lächeln erwidern.
»Sie mögen lachen«, sagte er, »aber es besteht Bedarf an Psychiatrie, kann sein, sogar mehr denn je.«
»Sie entbehrt vollkommen jeder Notwendigkeit«, widersprach Bonny rundheraus. »Ich bin nicht einmal davon überzeugt, daß sie überhaupt je eine Berechtigung gehabt hat, aber früher habe ich sicherlich an sie geglaubt. Ich war ihr regelrecht verfallen, wie Sie genau wissen.«
»Ruhe bitte«, meldete sich aus dem vorderen Teil der großen Räumlichkeit, wo sie am Radio drehte, June Raub zu Wort. »Wir können ihn gleich empfangen.«
Unsere Autoritätsperson spricht, dachte Dr. Stockstill, und wir tanzen nach ihrer Pfeife. Und dabei denke man sich mal, vor dem Tag X war sie nicht mehr als eine Tippse bei der hiesigen Filiale der Bank of America.
Mit mürrischer Miene machte Bonny Anstalten, Mrs. Raub irgendeine Entgegnung zuzurufen, doch unvermittelt beugte sie sich vor, näher zu Dr. Stockstill hinüber. »Lassen Sie uns rausgehen. Gleich muß George mit Edie eintreffen. Kommen Sie.« Sie führte ihn am Arm an den Reihen der Leute vorbei, die bereits Platz genommen hatten, zur Tür. Auf diese Weise gelangte Dr. Stockstill, ohne recht zu wissen, wie ihm geschah, nach draußen, auf die vorgebaute Veranda. »Diese June Raub ist ein verflucht herrisches Weib«, sagte Bonny. Sie spähte die Straße, die vor dem Forstamt verlief, hinauf und hinunter. »Noch nichts von Mann und Tochter zu sehen. Nicht mal unser werter Lehrer ist im Anmarsch. Aber natürlich dürfte Austu rias wieder mal im Wald und giftige Pilze sammeln sein, um uns allen den Rest zu geben, und Gott weiß, was Hoppy im Moment treiben mag. Befaßt sich bestimmt wieder mit irgendeiner sonderbaren Bastelei.« Sie überlegte, und wie sie so da im trüben spätnachmittäglichen Zwielicht stand, fand Dr. Stockstill sie ganz außerordentlich attraktiv; sie trug einen wollenen Sweater und einen langen, schweren, selbstgenähten Rock, ihr Haar war hinten zu einem struppigen roten Knoten verschlungen. Was für eine tolle Frau, dachte er. Echt schade, daß sie vergeben ist. Dann fügte er in Gedanken mit einem Anflug unwillkürlicher Bosheit hinzu: Aber sie war schon ein paarmal vergeben.
»Da kommt ja mein teurer Ehemann«, stellte Bonny fest. »Er hat's geschafft, sich von dem Schulkram loszureißen. Und Edie ist auch dabei.«
Die hochgewachsene, schlanke Gestalt des Schulleiters der Dorfschule kam die Straße herauf; neben ihm, an seiner Hand, ging eine kleinere Ausgabe Bonnys, ihre kleine rothaarige Tochter mit den klugen, intelligenten, seltsam dunklen Augen. Sie näherten sich, und George lächelte zur Begrüßung.
»Hat's schon angefangen?« rief er.
»Noch nicht«, gab Bonny ihm Auskunft.
»Das ist gut, Bill versäumt's nämlich ungern«, sagte die kleine Edie. »Er regt sich dann so auf.«
»Wer ist Bill?« erkundigte sich Dr. Stockstill bei ihr.
»Mein Bruder«, antwortete Edie gelassen und mit der schrankenlosen Selbstsicherheit einer Siebenjährigen.
Ich wußte gar nicht, daß die Kellers zwei Kinder haben, dachte Stockstill, auf einmal stutzig geworden. Und außerdem sah er kein anderes Kind; er sah nur Edie. »Wo steckt Bill denn?« fragte er sie.
»An meiner Seite«, sagte Edie. »Er ist immer bei mir. Kennen Sie Bill nicht?«
»Ein erdachter Spielkamerad«, sagte Bonny. Matt seufzte sie auf.
»Er ist nicht ausgedacht«, widersprach ihre Tochter.
»Na schön«, lenkte Bonny gereizt ein. »Es gibt ihn.« Sie
wandte sich Dr. Stockstill zu. »Hier sehen Sie also Bill, den Bruder meiner Tochter.«
»Bill freut sich, Sie kennenzulernen, Dr. Stockstill«, sagte Edie nach kurzem Schweigen, für dessen Dauer sie eine Miene aufsetzte, die von tatsächlicher Konzentration zeugte. »Guten Tag, sagt er.«
Stockstill lachte. »Ich bin auch erfreut, ihn kennenzulernen.«
»Da kommt Austurias«, sagte George und deutet in die entsprechende Richtung.
»Mit seinem Abendessen«, sagte Bonny in quengeligem Tonfall. »Warum bringt er eigentlich uns nicht bei, wie man Pilze sucht? Wozu ist er denn
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