Kinder des Holocaust
Austurias. Unwillkürlich hob er eine Hand, als wolle er sich dem LKW entgegenstemmen. Der Laster walzte nun schon fast über das Mobil hinweg, und noch immer schenkte Hoppy ihm keine Aufmerksamkeit.
»Hoppy!« schrie Mr. Austurias, und seine Stimme hallte durch die nachmittägliche Stille im Gehölz, seine Stimme und das Geknatter aus dem Motor des Lastwagens.
Der Phokomelus blickte auf, sah ihn jedoch nicht, fuhr weiter, während der Laster schon so dicht hinter ihm war, daß – daß Mr. Austurias die Augen schloß. Als er sie wieder aufschlug, sah er das Phokomobil abseits am Straßenrand stehen; der Laster röhrte vorüber, Hoppy war außer Gefahr: er mußte im letzten Augenblick ausgewichen sein.
Hoppy grinste dem LKW hinterdrein und winkte mit einer Prothese. Allem Anschein nach hatte er ihm nicht die geringste Sorge bereitet, nicht die mindeste Furcht eingejagt, obwohl er gemerkt haben mußte, daß der LKW-Fahrer es darauf angelegt gehabt hatte, ihn plattzumalmen. Hoppy drehte sich und winkte auch zu Mr. Austurias hinüber, den er zwar nicht sehen konnte, von dem er jedoch wußte, daß er sich in der näheren Umgebung aufhielt.
Seine Hände zitterten, die Hände des Schullehrers; er bückte sich, nahm wieder den leeren Korb und erklomm den Hügel, bis empor zur ersten der alten Eichen mit den feuchten Schatten darunter. Mr. Austurias war unterwegs zum Pilzesammeln. Er kehrte der Landstraße den Rücken zu und drang tiefer ins Zwielicht des Baumbestandes vor, weil er wußte, daß Hoppy nun in Sicherheit war, so daß er ihn und ebenso das, was er vorhin gesehen hatte, aus seinen Gedanken verdrängen konnte; er richtete seine Aufmerksamkeit von neuem auf den Anblick eines großen, dunkelgelben Exemplars Cantharellus cibarius, des Pfifferlings.
Ja, man sah ihn dank seiner Farbe von weitem, wie einen hellen Kreis inmitten des schwärzlichen Humus, die fleischige, saftige, kelchförmige Gestalt ganz niedrig, fast bedeckt vom modrigen Laub. Mr. Austurias hatte schon den Vorgeschmack auf der Zunge; er war groß und frisch, dieser Pfifferling, die kürzlichen Regenfälle hatten ihm zu üppigem Wuchs verholfen. Er beugte sich hinab und brach ihn weit unten am Stamm ab, um soviel wie möglich von ihm in den Korb tun zu können. Noch so einen Brocken, und er hatte sein Abendessen schon beisammen. Geduckt schaute er sich, ohne sich zu regen, nach allen Seiten um.
Dort war noch einer, weniger hell, vielleicht älter ... Er straffte sich und ging leise hinüber, als befürchte er, der Pilz könne die Flucht ergreifen, oder er könne ihn irgendwie wieder aus den Augen verlieren. Nichts mundete ihm so gut wie Pfifferlinge, nicht einmal der feine, leicht zottige Speisetäubling. Er kannte viele Stellen im Landkreis West Marin, an denen man Pfifferlinge finden konnte, da und dort, an den Hängen, die voller Eichen standen, den Wäldern. Insgesamt pflegte er in Wald und Flur acht verschiedene Arten von eßbaren Pilzen zu sammeln; fast so viele Jahre hatte es gedauert, bis er herausgefunden hatte, wo sie sich ausfindig machen ließen, und dennoch war es den Aufwand wert gewesen. Die meisten Menschen scheuten heutzutage Pilze, vor allem seit dem Tag X; besonders fürchteten sie die neuentstandenen, mutierten Exemplare, bei denen die Fachbücher keinerlei Rat geben konnten.
Zum Beispiel dieser hier, den ich gerade pflücke, dachte Mr. Austurias. Ist die Färbung nicht ein wenig sonderlich? Er drehte ihn zwischen den Händen hin und her und betrachtete die Maserung. Vielleicht ein Pseudo-Pfifferling, wie er in dieser Gegend bisher nicht aufgetreten war, unbekömmlich oder sogar giftig, eine Mutation. Er schnupperte daran und roch den Duft von Moder.
Soll ich vor diesem Ding bange sein? fragte er sich. Wenn der Phokomelus angesichts einer Gefahr ruhig bleiben kann, sollte ich wohl auch dazu imstande sein, gelassen ein gewisses Risiko auf mich zu nehmen.
Er legte den Pfifferling in seinen Korb und ging weiter.
Plötzlich vernahm er von unten, von der Straße, einen seltsamen Laut, einen rauhen, heiseren Schnaubton; er blieb stehen und lauschte. Das Geräusch wiederholte sich, und Mr. Austurias eilte durch das Eichenwäldchen zurück in die Richtung, woher er gekommen war, bis er wieder ins Freie gelangte und erneut oberhalb der Landstraße stand.
Das Phokomobil befand sich noch immer neben der Fahrbahn auf dem Seitenstreifen; der arm- und beinlose Technikus war nicht weitergefahren, sondern saß vornübergesunken auf seinem
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