Kinder des Holocaust
hier Lehrer? Wofür ist ein Lehrer sonst da? Ich muß sagen, George, manchmal muß ich mir ernste Gedanken über einen Mann machen, der ...«
»Wenn er uns das Pilzesammeln beibrächte«, meinte Stockstill, »würden wir sie bloß in Nullkommanichts wegputzen.« Er besaß darüber Klarheit, daß Äußerungen ohnehin lediglich rhetorisch aufzufassen waren; obwohl sie nicht alle ausgesprochenen Gefallen daran hatten, respektierten sie ausnahmslos Mr. Austurias' Art, selten gewordenes Wissen zu bewahren und zu hüten; es war sein gutes Recht, seine mykologischen Kenntnisse für sich zu behalten. Jeder von ihnen hatte irgendeinen vergleichbaren verborgenen Schatz, von dem er insgeheim innerlich zehrte. Andernfalls wären diese Menschen hier, überlegte er, längst nicht mehr am Leben, sondern hätte sich zur großen Mehrheit gesellt, den stummen Toten unter ihren Füßen, den Millionen, die man wahlweise als Glückliche oder Unglückliche betrachten konnte, ganz nach dem jeweiligen persönlichen Standpunkt. Bisweilen hatte er selbst den Eindruck, daß heutzutage Pessimismus angebracht sei, und bei solchen Anlässen hielt er die Toten für glücklich. Doch Pessimismus beschränkte sich bei ihm auf zeitweilige Stimmungen; gegenwärtig, wie er da neben Bonny Keller im Schatten stand, keinen halben Meter neben ihr, nah genug, um eine Hand heben und sie berühren zu können, verspürte er jedenfalls kein derartiges Stimmungstief ... obwohl er sie bestimmt nicht anfassen würde. Ihm war klar, daß er sich mit so etwas einen Nasenstüber einhandeln müßte. Eins anständig kräftig auf den Rüssel. Und George würde es merken, als ob es noch nicht schlimm genug wäre, von Bonny geschlagen zu werden.
Er lachte unterdrückt auf. Bonny sah ihn argwöhnisch an.
»Entschuldigung«, sagte er. »Ich habe bloß gerade so ein bißchen vor mich hingeträumt.«
Mr. Austurias erreichte das Haus; die Anstrengung hatte sein Gesicht gerötet. »Lassen Sie uns reingehen«, schnaufte er, »damit wir Dangerfields Lesung nicht versäumen.«
»Sie wissen doch, wie's weitergeht«, sagte Stockstill. »Mildred kommt zurück und tritt wieder in sein Leben und macht ihm jede Menge Kummer. Das ist Ihnen doch alles bekannt, Sie kennen das Buch so gut wie ich, wie wir alle.« Die aufgeregte Anteilnahme des Lehrers gab ihm Grund zur Erheiterung.
»Heute abend werde ich nicht zuhören«, sagte Bonny. »Ich kann's einfach nicht ertragen, ständig von June Raub den Mund verboten zu bekommen.«
»Naja, es steht Ihnen selbstverständlich frei«, bemerkte Stockstill dazu, indem er sie ansah, »nächstes Jahr selbst Gemeindeleiterin zu werden.«
»Ich glaube, June bekäme ein wenig Psychoanalyse ganz gut«, sagte Bonny. »Sie ist so aggressiv, ein richtiges Mannweib, überhaupt nicht natürlich. Warum nehmen Sie sie nicht mal vor und verordnen ihr ein paar Stunden Therapie?«
»Möchten Sie mir noch'n Patienten aufs Auge drücken, Bonny?« fragte Stockstill zurück. »Ich kann mich noch an den letzten entsinnen, dem Sie mich empfohlen haben. Sich an ihn zu erinnern, war leicht, denn der Tag, an dem jener Patient ihn aufgesucht hatte, war auch der Tag gewesen, an dem auf das Gebiet rings um die Bucht von San Franzisko die Bomben herabhagelten. Jahre her, dachte er. In einer anderen Inkarnation, wie Hoppy es ausdrücken würde.
»Sie hätten etwas für ihn tun können«, behauptete Bonny, »wären Sie dazu in der Lage gewesen, ihn zu behandeln, aber Sie haben ja gar nicht mehr die Zeit dafür erhalten.«
»Danke für Ihren Zuspruch«, sagte er und lächelte.
»Übrigens, Doktor«, sagte Mr. Austurias, »ich habe heute bei unserem jungen Phokomelus ein merkwürdiges Verhalten beobachtet. Ich habe mir sofort vorgenommen, Sie nach Ihrer Meinung zu fragen, sobald sich eine Gelegenheit ergibt. Er bringt mich manchmal aus der Fassung, muß ich gestehen ... Und er macht mich wirklich neugierig. Die Fähigkeit, gegen alle Widrigkeiten zu überleben ... sie ist bei Hoppy unerhört stark ausgeprägt. Sicherlich ist das auch eine Ermutigung, 'ne Ermutigung für uns alle, wenn Sie verstehen, was ich sagen will. Wenn er's schaffen kann ...« Der Lehrer verstummte. »Aber jetzt müssen wir rein.«
»Jemand hat mir erzählt«, sagte Stockstill zu Bonny, »daß Dangerfield Ihren alten Freund kürzlich erwähnt hat.«
»Er hat Bruno erwähnt?« Sofort zeigte Bonny Aufmerksamkeit. »Also lebt er noch, oder? Ich war immer der Überzeugung, daß er noch lebt.«
»Nein,
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