Kinder des Holocaust
erst einmal um, schaute an den Himmel, und da sah sie erneut im Süden die riesige braune Rauchsäule. Steht San Franzisko schon in Flammen? fragte sie sich.
Es brennt, schlußfolgerte sie. Eine regelrechte Katastrophe. Die Stadt ist betroffen, nicht nur hier die Gegend von West Marin. Nicht bloß eine Anzahl der hiesigen Landbevölkerung, sondern die ganze Einwohnerschaft der Stadt. Zehntausende von Toten mußte es gegeben haben. Man wird den Notstand ausrufen, das Rote Kreuz und die Armee alarmieren; an den heutigen Tag werden wir bis an unser letztes Stündlein denken. Sie ging weiter und begann zu weinen, preßte die Hände vors Gesicht, sah nicht, wohin sie unterwegs war, und es war ihr auch gleichgültig. Sie weinte nicht um sich selbst oder ihr verwüstetes Haus; sie beweinte die Stadt dort im Süden. Sie weinte um all die Menschen und Dinge in der Stadt und über das, was sich mit ihnen zugetragen hatte.
Ich werde es nie wiedersehen, begriff sie. Es gibt kein San Franzisko mehr; jetzt gehört es der Vergangenheit an. Heute war das Ende über die Stadt hereingebrochen. Sie weinte und strebte in die allgemeine Richtung zur Ortschaft; inzwischen konnte sie die Stimmen von Menschen drunten in der flacheren Umgebung hören. Sie orientierte sich daran und wanderte hinunter.
Neben ihr stoppte ein Auto. Die Wagentür ging auf; ein Mann packte sie. Sie wußte nicht einmal, ob er hier irgendwo wohnte oder sich nur auf der Durchfahrt befand. Auf jeden Fall klammerte sie sich an ihn.
»Schon gut, alles klar«, sagte der Mann und drückte sie um die Taille.
Sie schluchzte, drängte sich noch heftiger an ihn, schmiegte sich in die Sitze, zog ihn über sich herab.
Später war sie von neuem zu Fuß unterwegs, diesmal eine schmale Straße entlang, von Eichen gesäumt, jenen knorrigen alten, von Leben strotzenden Eichen, die sie so sehr mochte, die an beiden Seiten der Straße standen. Der Himmel über ihnen war fahl und grau, schwere Wolkenbänke durchzogen ihn und trieben in eintöniger Folge nach Norden. Das muß die Straße zur Bear Valley Ranch sein, sagte sie sich. Die Füße taten ihr weh, und als sie stehenblieb, um sie zu betrachten, entdeckte sie, daß sie barfuß war; irgendwo auf ihrem Weg waren ihr die Schuhe abhanden gekommen.
Sie trug noch die mit Farbe beklecksten Jeans, die sie am Leibe gehabt hatte, als das Erdbeben auftrat, die Stereoanlage verstummte. Aber war es überhaupt wirklich ein Erdbeben gewesen? Der Mann in dem Auto hatte – furchtsam und in einem Geplapper wie ein Kleinkind – irgend etwas anderes erzählt, doch es war zu wirr gewesen, zu stark von Panik gekennzeichnet, als daß sie es hätte begreifen können.
Ich will nach Hause, dachte sie. Ich will wieder in meinen eigenen vier Wänden sitzen und meine Schuhe wiederhaben. Vermutlich sind sie in dem Auto geblieben; wahrscheinlich liegen sie irgendwo hinten in dem Wagen. Und ich bekomme sie niemals zurück.
Sie stapfte weiter, krümmte sich vor Schmerzen, wünschte sich irgendwelche Menschen herbei, dachte besorgt an das Aussehen des Himmels hoch droben, und mit jedem Augenblick, der verstrich, fühlte sie sich verlassener.
6
Als er in seinem VW-Bus weiterfuhr, erhaschte Andrew Gill noch einen letzten Blick auf die Frau, gekleidet in eine mit Farbe bekleckerte Jeans und einen Pullover, die er gerade hatte aussteigen lassen; er sah sie barfüßig am Straßenrand entlanggehen, bis er sie, als er in eine Kurve einbog, aus der Sicht verlor. Ihren Namen kannte er nicht, doch er hatte den Eindruck, als handele es sich so ungefähr um die schönste Frau, die er je gesehen hatte: mit rotem Haar und kleinen, zierlich gewachsenen Füßen. Und er und sie, dachte er benommen, hatten eben hinten in seinem VW-Bus gebumst.
Für ihn setzte sich das alles aus einem Hexenkessel von Hirngespinsten zusammen, diese Frau, die gewaltigen Explosionen im Süden, die das ganze Land zum Aufbäumen gebracht und den Himmel grau verhangen hatten. Er wußte, das war irgendwie Krieg oder jedenfalls irgendein verheerendes Vorkommnis ganz neuer Art, völlig neuartig nicht nur für seine Begriffe, sondern für die gesamte Welt.
Am Morgen war er von seiner Firma in Petaluma abgefahren, nach West Marin, um dem Apotheker in der Nähe von Point Reyes einen Schub importierter englischer Bruyèrepfeifen auszuliefern. Er betrieb einen Spirituosen- (vor allem Wein) und Tabakgroßhandel, besorgte auch alles für den ernsthaften Raucher, bis hin zu kleinen vernickelten
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