Kinder des Holocaust
Werkzeuglein zum Säubern von Pfeifen und Hineindrücken des Tabaks. Während der Weiterfahrt fragte er sich, was wohl aus seiner Großhandlung geworden sein mochte; hatte die Katastrophe auch das Gebiet um Petaluma heimgesucht?
Ich sehe besser zu, daß ich so schnell wie möglich wieder hingelange, damit ich nach dem rechten schauen kann. Dann schweiften seine Gedanken erneut zu der schmalen rothaarigen Frau in den Jeans ab, die in seinen Bus gesprungen war – oder die es ihm gestattete, sie ins Fahrzeug zu ziehen (er wußte nicht mehr genau, wie es sich eigentlich abgespielt hatte) –, und irgendwie kam ihm das Gefühl, er solle ihr lieber nachfahren und sich darum kümmern, was aus ihr wurde. Ob sie hier in der Gegend wohnt? fragte er sich. Und wie soll ich sie wiederfinden? Schon jetzt war er sich darüber im klaren, daß ihm daran lag, sie wiederzusehen; noch nie hatte er eine Frau wie sie getroffen, nie zuvor war ihm jemand wie sie begegnet. Und hatte sie es wohl nur infolge eines Schocks getan? War sie zu dem Zeitpunkt überhaupt zurechnungsfähig gewesen? Hatte sie bereits früher dergleichen gemacht ... und würde sie es – diese Frage hielt er für noch wichtiger – wieder tun ...?
Doch er fuhr weiter, drehte nicht um. Seine Hände fühlten sich taub an, als wären sie abgestorben. Er war erschöpft. Es werden noch mehr Bomben fallen, es wird noch mehr Explosionen geben, ich weiß es genau, dachte er. Die ersten sind im Bereich der Bay niedergegangen, und es werden weitere kommen. Am Himmel bemerkte er nun in rascher Folge Leuchterscheinungen, denen sich etwas später ein fernes Grollen anschloß, das seinen Bus erfaßte, ihn ins Schaukeln und Schleudern brachte. Dort gingen neue Sprengköpfe hoch, nahm er an. Vielleicht ist es auch unsere Luftabwehr. Aber es werden weitere Geschosse ihre Ziele erreichen.
Und dann mußte man von jetzt an natürlich auch die Strahlung berücksichtigen.
Hoch am Himmel wehten die Wolken dessen, von dem er nun wußte, daß es lebensgefährlich verstrahlt war, immerzu nach Norden, anscheinend nicht niedrig genug, um hier unten an der Erde das Leben zu schädigen, sein Leben und das Dasein der Sträucher und Bäume längs der Straße. Vielleicht werden wir erst in ein paar Tagen vor die Hunde gehen, überlegte er. Möglicherweise ist das allgemeine Abkratzen nur eine Frage der Zeit. Hat es überhaupt noch Wert, irgendwo Zuflucht zu suchen? Soll ich versuchen, mich in den Norden abzusetzen? Aber die Wolken bewegten sich nordwärts. Es ist besser, ich bleibe hier, sagte er sich, und versuche, irgendwo in der Nähe Schutz zu finden. Ich glaube, ich habe einmal gelesen, daß das hier eine geschützte Ecke ist, der Wind weht an West Marin vorbei landeinwärts, nach Sacramento.
Und noch immer sah er keinen Menschen. Bis jetzt war ihm nur die Frau über den Weg gelaufen – die einzige Person, die er seit den ersten Bombenexplosionen und seinem Begreifen, was das bedeutete, gesehen hatte. Keine Autos. Keine Menschen zu Fuß. Aber sie dürften bald von da unten angeströmt kommen, nahm er an. Zu Tausenden. Und sterben wie die Fliegen. Flüchtlinge. Vielleicht sollte ich mich darauf einstellen, auf irgendeine Art und Weise Beistand leisten zu können. Doch in seinem VW-Bus befand sich nichts außer Pfeifen, Dosen voller Tabak sowie Flaschen mit kalifornischem Wein aus kleineren Kellereien; er besaß keinerlei medizinische Hilfsmittel und besaß auch nicht die geringste Ahnung von entsprechenden Hilfeleistungen. Und außerdem war er bereits über fünfzig Jahre alt und hatte ein chronisches Herzleiden, das sich Paroxysmale Tachycardie nannte. Es grenzte wahrhaftig an ein Wunder, daß er vorhin, als er hinten mit der Frau bumste, keinen Herzanfall erlitten hatte.
Meine Frau und die beiden Kinder, dachte er. Womöglich sind sie tot. Aber ich muß ganz einfach zurück nach Petaluma. Soll ich anzurufen versuchen? Absurd. Die Telefonverbindungen bestehen ganz bestimmt nicht mehr. Er fuhr immerzu weiter, ziellos, wußte nicht, wohin er sich wenden, und nicht, was er tun sollte. Er hatte nicht einmal eine Ahnung, wie groß die Gefahr war, in der er schwebte, ob der feindliche Angriff vorbei war oder dies erst der Anfang. Ich kann praktisch jeden Moment ausgelöscht werden, begriff er.
Doch in seinem wohlvertrauten VW-Bus, den er jetzt schon seit über sechs Jahren hatte, fühlte er sich irgendwie sicher. Der Wagen war durch das, was geschehen war, nicht in seiner Funktionstüchtigkeit
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