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Kinder des Holocaust

Kinder des Holocaust

Titel: Kinder des Holocaust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip K. Dick
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wundert's, daß Sie mich nicht auch auffressen«, sagte der Mann anschließend.
    »Ist nicht schlimmer, als wenn man rohe Garnelen ißt«, sagte Stuart. Er fühlte sich jetzt wesentlich wohler, die Ratte war seine erste Nahrung seit Tagen gewesen.
    »Warum gehen Sie nicht los und suchen eine der Hilfestellen, von denen man gestern im Vorbeifliegen aus dem Hubschrauber gesprochen hat?« fragte ihn der Sterbende. »Es ist doch gesagt worden – jedenfalls hab ich's so verstanden –, daß drüben an der Hilleside-Grundschule so'ne Hilfestation ist. Das ist nur'n paar Blocks von hier. Bis dahin können Sie sich doch wohl durchschlagen.«
    »Nein«, sagte Stuart.
    »Weshalb nicht?«
    Die Antwort, obwohl Stuart sie nicht auszusprechen wünschte, lautete ganz einfach, daß er sich zu sehr fürchtete, um sich aus dem Haus auf die Straße zu wagen. Den Grund wußte er selbst nicht recht, einmal davon abgesehen, daß sich draußen in der niedergesunkenen Asche andauernd irgendwer oder -was hin- und herbewegte, ohne daß er zu ermitteln vermocht hätte, was dort vorging. Er glaubte, daß es Amerikaner waren, aber möglicherweise handelte es sich um Chinesen oder Russen. Ihre Stimmen klangen seltsam und hallten sonderbar, sogar am hellichten Tag. Und auch in bezug auf den Hubschrauber war er sich unsicher; das konnte ein feindlicher Trick sein, um die Leute herauszulocken und dann umzulegen. Jedenfalls hörte er noch immer aus den tiefergelegenen Stadtteilen gelegentliches Gewehrfeuer; das ferne Knallen begann kurz vor Sonnenaufgang und hielt meist unregelmäßig bis zum Abend an.
    »Sie können nicht ewig hier bleiben«, sagte Ken. »Das ist völlig unvernünftig.« Er lag in Decken gehüllt, die von einem der Betten des Hauses stammten; das Bett war ins Freie geschleudert worden, als das Haus zusammenknickte, und Stuart und der Mann, der inzwischen dem Tode nahe war, hatten es im Hinterhof gefunden. Die ordentlich an den Seiten untergeschobenen Decken mitsamt den beiden mit Daunen gefüllten Kopfkissen waren noch darauf gewesen.
    Was Stuart eigentlich beschäftigte, war die Tatsache, daß er innerhalb von fünf Tagen aus den Taschen von Toten, die in Hausruinen entlang der Cedar Street lagen, Tausende von Dollar in Bargeld eingesammelt hatte – aus ihren Taschen und den Häusern. Andere Plünderer waren auf Lebensmittel und diverse andere Gegenstände aus, etwa Messer und Schußwaffen, und es bereitete ihm Unbehagen, daß er, falls er eine Hilfsstation aufsuchte, eine bittere Wahrheit erfahren könnte: daß das Geld keinen Wert mehr besaß. Und wenn er in der Tat ein Idiot gewesen war und all das Geld zusammengetragen hatte und dann mit einem Kopfkissenbezug voll wertlosem Plunder in der Hilfsstation aufkreuzte, würde man ihn auslachen und verspotten, und zwar mit Recht, weil ein derartiger Idiot es nicht anders verdiente.
    Und außerdem hatte es anscheinend außer ihm niemand nötig, Ratten zu verspeisen. Vielleicht gab es irgendwo eine Möglichkeit, sich mit besserer Nahrung zu versorgen, von der er nichts wußte; es kam ihm ganz so vor, als hätten alle anderen Überlebenden das Essen vollständig aufgegeben. Vielleicht warf man Notrationen aus der Luft ab; es mochte sein, daß man die Behälter schon am frühen Morgen abwarf, wenn er noch schlief, und daß andere alles auflasen, ehe er die Gelegenheit erhielt, sich etwas davon anzueignen. Seit Tagen marterte ihn nun eine tiefe, stets noch anwachsende Sorge, ihm könnten irgendwelche entscheidenden neuen Entwicklungen entgehen, daß man irgend etwas kostenlos austeilte – womöglich gar am hellen Tag –, an alle außer ihn. Kann sein, ich bin in Wirklichkeit vom Pech verfolgt, dachte er sich, und ihm war mißmutig und verbittert zumute, und die Ratte, die er soeben hinabgeschlungen hatte, sah er nicht länger so sehr als Gewinn an.
    Im Laufe der vergangenen paar Tage hatte Stuart im verheerten Erdgeschoß dieses Hauses an der Cedar Street viel Zeit zum Nachdenken über sich selbst gehabt? Und dabei war ihm zu Bewußtsein gekommen, daß es ihm an sich schon immer schwergefallen war, die Verhaltensweisen anderer Menschen zu verstehen, stets hatte es ihn die größte Mühe gekostet, sich so wie sie zu benehmen, den Eindruck aufrechtzuerhalten, er sei genauso wie sie. Es bestand kein Zusammenhang damit, daß er Neger war, denn das Problem war mit anderen Farbigen ebenso vorhanden wie mit Weißen. Es handelte sich um keine Umgangsschwierigkeiten im herkömmlichen Sinn; das

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