Kinder des Judas
herauf. Jitka suchte die Felder mit Blicken ab, um einen Hinweis auf das Geschehen der Nacht zu erhalten, aber es fanden sich keinerlei Spuren.
Der Nebel, der ihr gestern Nacht so viel Angst bereitet hatte, war bis auf eine kleine hartnäckige Bank neben dem Unterstand verschwunden.
Als sie zu den Felsen schaute, sah sie eine regungslose Männergestalt unter dem Vorsprung stehen, die ihnen nachschaute. Auf dem Kopf trug der Mann ein merkwürdiges Gebilde, das einem gewaltigen Knäuel glich, doch wegen des Schattens erkannte sie nicht, worum es sich handelte. Ein Turban? Darin funkelte es gelegentlich auf, ein dunkelblaues Schimmern nahm sie gefangen.
Jitka sah zu Martin. »Siehst du den Mann?«
»Wo denn?« Der Großknecht drehte den Kopf. »Ich sehe niemanden, Kleine.«
»Aber er ist da drüben, bei den Steinen! Er …« Jitka suchte die Umgebung mit ihren Blicken ab. Die Gestalt war verschwunden und mit ihr das geheimnisvolle Funkeln.
Sie fröstelte und richtete ihre Augen auf den holprigen Weg, in den sie abbogen. Hatte sie soeben einen Blick auf den Upir erhascht? Jitka nahm das Beten wieder auf und flehte darum, bald wieder nach Hause gehen zu dürfen. Zusammen mit ihrer Mutter.
Vor nicht allzu langer Zeit hatte sie sich gewünscht, Abenteuer zu erleben und neue Dinge zu sehen. Was ihr der vergangeneTag und die vergangene Nacht gebracht hatten, war zu viel davon gewesen.
3. April 1670
In der Nähe von Gruža (serbisches Gebiet),
Osmanisches Reich
Die Öllampen in der Stube brannten mit großen Dochten und spendeten den Frauen, die beim Nähen und Sticken zusammensaßen, ein weiches, warmes Licht.
Schnee und Frost waren überraschend zurückgekehrt. Der Frühling ließ noch auf sich warten, und so verbrachten die Frauen die Tage und Abende mit Handarbeit. Alle hofften darauf, dass bald gutes Wetter über das Land kam und die Felder weiter bestellt werden konnten.
Auf einem Tisch saß Jitka, die den Frauen in der Zeit, in der sie weder Stadtneuigkeiten noch Märchen und Geschichten zu erzählen wussten, wunderschöne Lieder sang. Stets tat sie dies mit Tränen in den Augen, weil jeder Ton sie an ihre Mutter erinnerte. Janja hatte ihr nicht nur das Talent vererbt, sondern auch die Lieder beigebracht, die sie gemeinsam zu Hause gesungen hatten. So schön klangen die alten Weisen, dass die Menschen oft auf der Straße stehen geblieben waren, um zuzuhören.
Den Frauen auf dem Gehöft war dies gleich am ersten Tag aufgefallen, als Jitka beim gemeinsamen Singen ihre Stimme erhoben hatte. Keine von ihnen reichte an sie heran, keine besaß eine so warme und zugleich glasklare Stimme.
Es machte Jitka glücklich zu sehen, wie sehr sie die Herzen der Frauen rührte, denn jedes Lied sang sie zu Ehren ihrer Mutter. Es war ihre Art, die Angst um Janja auszuhalten; sie sang sich den Schmerz von der Seele.
»Kleine Nachtigall, lass uns noch einmal das Lied von den Weiden hören«, bat eine der Tagelöhnerinnen und sah von ihrem Stickbrett auf. »Ich habe es noch von keinem Menschen so schön gehört wie von dir.« Für diese Bitte erntete sie auf der Stelle zustimmendes Gemurmel.
Jitka lächelte schwach, stellte sich auf den Tisch und schloss die Augen. Dann atmete sie tief ein und erhob die Stimme, lauschte sich selbst und überwachte jeden ihrer eigenen Töne, damit sich kein Fehler einschlich, so wie es ihr Janja beigebracht hatte. Doch dann verlor sie sich zunehmend selbst in ihrem Gesang und ging vollends darin auf. Somit verlieh sie der Weise von den an gegenüberliegenden Flussufern stehenden Weiden, deren silberne Blätter sich vor Gram über ihre Trennung schwarz färbten, etwas Einmaliges.
Die Frauen hörten nicht nur das Lied, sie spürten den Schmerz der Bäume, die ihre Äste und Zweige neigten, um sich über dem Wasser zu berühren, und dabei in die Fluten stürzten. Und wenn Jitkas Vortrag damit endete, dass der Fluss Mitleid mit den Weiden hatte und sie an anderer Stelle nebeneinander neue Wurzeln schlagen ließ, hatten viele der Frauen Tränen in den Augen, die sie so unauffällig wie möglich fortwischten.
Jitka selbst fühlte sich wie eine dieser unglücklichen Weiden. Niemand konnte ihr sagen, wie es ihrer Mutter erging, wo man sie hingebracht hatte. Es machte also auch keinen Sinn, dass sie sich heimlich vom Hof stahl, um zu ihr zu gelangen. Also blieb ihr nichts anderes, als bei Martin auszuharren. Eine einsame Weide, die darauf hoffte, dass der Fluss sie endlich erfassen
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