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Kinder des Judas

Titel: Kinder des Judas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Heitz , Markus Heitz
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erzähle. Sie mag die Geschichten. Ich selbst bin mir da nicht so sicher.
    Unter der Decke steckt rechts neben ihr Paddy, der braune Kuschelteddy, dem ich heute auch schon etwas zu essen gegeben habe. Oder jedenfalls so getan, als ob. Thea mag es, wenn ich ihr Geschichten erzähle, für sie singe und mit ihr und Paddy spiele. Danach hat sie das bisschen Brei, das sie zu sich genommen hatte, gleich wieder von sich gegeben. Waren es die Aufregung und die Freude? Habe ich sie zu sehr zumLachen gebracht? Jetzt wird sie Nährlösung direkt ins Blut bekommen.
    Als ich sie berühre, dreht sie den Kopf, klemmt dabei meine Finger fest und lächelt im Schlaf. Ich muss meine Tränen niederringen, weil ich weiß, dass ich dieses Lächeln nicht mehr oft sehen werde. Kein Mensch wird es nach dieser Nacht mehr sehen; höchstens auf einem Foto.
    Es gibt dieses Märchen, in dem ein Arzt den Tod am Bett seiner Patienten stehen sieht und erkennt, ob sich der Kranke von seinem Leiden erholt oder nicht. Ich sehe den Tod zwar nicht, aber ich spüre ihn. Es ist eine Gabe, um die ich nicht gebeten habe. Vielleicht wurde sie mir verliehen, weil ich mich so oft mit dem Tod beschäftigt habe und mehr Menschen beim Sterben begleiten musste, als andere lebendigen Menschen begegnen. Bei Thea wusste ich schon am ersten Tag, dass er sie schon lange ausgesucht hatte. Es war einer jener Momente, in denen man an Gott zweifelt. Dabei ist es hochgradig unfair, ihm die Schuld zu geben. Ich meine, was würden Atheisten tun? Können sie jemanden verantwortlich machen? Wenn nicht zufällig ein Kernkraftwerk in der Nähe von Theas Wohnung liegt und es dort nachweislich ein Strahlungsleck gab, das den Tumor ausgelöst hat, dürfte es ein Atheist schwer haben, jemanden anzuklagen.
    Sie sprechen von Schicksal – und meinen damit nur zu oft doch Gott. Auch wenn man an nichts glaubt, glaubt man.
    In anderen Religionen heißt es sinngemäß, dass man bekommt, was man verdient. Oder die Rechnung für Dinge zahlt, die man in einem vorherigen Leben getan hat. Es fällt schwer, sich vorzustellen, dass ein so liebes Kind wie Thea in einem anderen Leben eine schreckliche Tat begangen haben könnte, für die sie in ihrem heutigen büßen muss; zudem wäre es wieder unfair, weil sie sich ihrer Schuld von damals nicht bewusst ist. Ebenso unfair, wie Gott die Schuld zu geben.
    Ich ziehe meine Hand behutsam unter Thea heraus, streichele sie wieder und bin froh, dass ich kein Atheist bin. Mein Glaube ist stark, er verwindet auch den Tod eines unschuldigen kleinen Mädchens, ohne mit Gott zu hadern. Es gibt Dinge, die nicht geändert werden können. Wir Menschen haben alles getan, um sie zu retten.
Ich
habe alles getan, um sie zu retten, und das, ohne dass es jemand bemerkte. Doch die Krankheit war stärker. Die Ärzte werden von ihrem Tod überrascht werden.
    Allerdings bin ich lange nicht so abgebrüht, wie das vielleicht erscheinen mag. Ich sehe die schlafende Thea an – und möchte jemandem mitten ins Gesicht schlagen. Um mich vor meiner eigenen Trauer zu schützen, werde ich wütend, werfe mich in Aggression, in Tobsucht. Es hat langer Jahre bedurft, bis ich es kontrollieren konnte. Oder besser gesagt: bis ich ein Ventil fand.
    Sie hatte bisher Glück, die kleine Thea. Keine Unfälle, nicht einmal ein Beinbruch oder eine von den klassischen Verletzungen, die man als Kind hat. Sie war Klassenbeste und sollte nächstes Jahr ins Gymnasium wechseln, eine ganze Klasse überspringen. So ein cleveres Mädchen.
    Thea zuckt. Die Melodie des Lebens bekommt einen kurzen, schrillen Misston.
    Ich nehme ihre kühle Hand zwischen meine Finger. »Schsch, schsch, ich bin da, Thea«, flüstere ich freundlich und warm, dabei lehne ich mich nach vorne, damit mein Schatten über sie fällt und sie meine Anwesenheit unterbewusst spürt. »Sei ruhig, Liebes. Ich bin da.«
    Der Klang meiner Stimme beruhigt sie, die Herzfrequenz fällt zurück auf ihr gesundes Maß, aber ich habe die Botschaft sehr wohl verstanden. Mit einer Hand drücke ich die Wechselsprechanlage.
    »Schwester Doris, benachrichtigen Sie bitte Theas Eltern«, sage ich leise. »Ihre Tochter wird bald sterben.«
    »Danke, Frau Sarkowitz«, kommt die Antwort. Keine Rückfragen, kein
Sind Sie sicher?
oder
Sind Sie verrückt? Bei den tollen Werten?
Das hat einen Grund. Doris kennt mich seit sieben Jahren, und sie weiß, dass jede meiner Voraussagen stimmt. Wie oft haben sie und ich uns schon gewünscht, dass ich einmal

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