Kinder des Judas
Und das neue Medikament …«
Angerers Gesicht ist unbeweglich. Es ist der Ausdruck absoluter Hilflosigkeit.
Die Tränen lassen sich nicht länger zurückhalten. Ich ergebe mich der Trauer über den Verlust des jungen, unschuldigen Lebens und hoffe, dass die Wut bald zu mir zurückkehren wird.
Wer mich so an diesem Bett sieht, könnte meinen, ich sei die Mutter, die Tante, irgendeine nahe Angehörige von Thea, und so falsch ist das gar nicht. Ich fühle mich den Toten sehr eng verbunden, habe ich sie doch begleitet und bin mit ihnen ein Stück des Weges gegangen, den sie nur einmal gehen. Es ist etwas Unikales. Etwas, was uns zusammenschweißt.
Nach ein paar Minuten habe ich mich wieder gefangen und stehe auf. Erst jetzt lasse ich die Hand des Mädchens los, wische mir die Feuchtigkeit mit einem Taschentuch aus den Augen und von den Wangen, wissend, dass ich mein Make-up damit zerstöre. Einerlei.
Angerer und seine weiße Truppe sind schon wieder weitergezogen, vielleicht ein neuer Notfall oder die Routine des Sterbens im Krankenhaus: Bericht schreiben,
Patientin infolge ihrer schweren Krebserkrankung verstorben
, Uhrzeit nicht vergessen und keinesfalls
unerwartet
notieren, sonst hebt der Staatsanwalt den Kopf.
An der Tür drehe ich mich noch einmal um und betrachte Thea, wie sie daliegt, den Teddy im Arm. Ich spüre noch immer ihre Finger in meiner Hand, die Abdrücke sind auf meiner Haut zu sehen. So eine Schande.
Mein Weg führt mich ins Schwesternzimmer, in dem betroffene Stille herrscht. Die Nachtschicht weiß selbstverständlich Bescheid.
»Hier, Frau Sarkowitz«, empfängt mich Doris und reicht mir eine Tasse Tee. Es ist unser Ritual, seit sieben Jahren.
»Danke.« Ich hasse meine Stimme, wenn sie nasal klingt. Sie ist für eine Frau ungewöhnlich tief und dabei doch klar. Nur nach dem verfluchten Weinen höre ich mich an, als würde ich durch eine Gießkanne sprechen. Nach viel Zucker und Milch koste ich den Tee.
Auf dem Gang sehe ich Theas Eltern vorbeihasten.
»Ich mache das schon«, sagt Doris, steht auf und geht hinaus, um ihnen den Tod der Tochter schonend beizubringen. Das ist die Arbeitsteilung zwischen uns: Ich begleite die Menschen beim Sterben, sie die Angehörigen beim Trauern. Sie kann es besser als jeder Arzt, deswegen lässt man sie unter der Hand gewähren.
Schluck für Schluck leere ich die Tasse und versuche, meineGedanken zu ordnen. Stattdessen habe ich Theas Gesicht vor Augen, das liebe kleine Gesicht. Es wird mich mindestens eine Woche verfolgen, das ist sicher. Der Tod von Erwachsenen geht mir lange nicht so nahe wie der von Kindern.
Meine Aufgabe in der Onkologie ist beendet. Es gibt derzeit keinen weiteren Kandidaten auf der Station, der bald aus dem Leben scheiden muss. Ich blicke zur Uhr über der Tür.
01.01
verkündet die Anzeige. Meine zweite Berufung beginnt bald.
Ich stelle die Tasse auf den Tisch zurück, erhebe mich und gehe zum Ausgang, als Doris zurückkommt. Nun hat auch sie Tränen in den Augen. Auf dem Flur höre ich das laute, verzweifelte Weinen einer Frau.
»Ich weiß gar nicht, wie Sie den Tod ertragen, Frau Sarkowitz«, sagt Doris gedrückt. »Wenn ich die Angehörigen und deren Leid sehe, könnte ich stundenlang mitheulen.« Sie greift in ihren Kittel und sucht nach einem Taschentuch.
»Sehen Sie, liebe Schwester Doris, das ist der Grund, warum ich die Sterbenden begleite, nicht die Verwandten«, erwidere ich. »Was denken Sie, wie bei mir Rotz und Wasser liefen, wenn ich bei den Eltern stehen müsste? Tröstende Worte liegen mir nicht.«
Wir reichen uns die Hand, sie berührt mich zusätzlich noch an der Schulter und geht an mir vorbei ins Zimmer.
»Haben wir noch jemanden auf den anderen Stationen?«, frage ich aus Gründen der Höflichkeit, obwohl ich es bereits weiß.
Doris schüttelt den Kopf. »Nein, Frau Sarkowitz. Auf der Intensiv der Urologie zwei liegt ein älterer Herr ohne Angehörige, aber das wissen Sie ja bereits. Der Oberarzt meinte, dass er nicht mehr viel Zeit hat, aber …«
»… aber das hat er auch schon vor einer Woche gesagt«, beende ich ihren Satz und lächle sie freundlich an. »Machen Sie sich keine Sorgen, Schwester Doris. Ihm bleiben drei Tage, vielleicht vier. Ich gehe morgen Nacht zu ihm.« Noch so ein ganztrauriger Fall: ein vergessener, einsamer alter Mensch. Gerade sie haben oft die größte Furcht vor dem Tod, auch wenn sie vorgeben, dass es eine Erlösung für sie wäre. Die meisten lügen. Ich werde ihm viel
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