Kinder des Judas
Zuwendung zukommen lassen. »Gute Nacht«, grüße ich in die Runde und warte, wie immer, nicht auf eine Antwort.
Ich gehe den Korridor hinunter zum Treppenhaus, während ich hinter mir das laute Weinen der Mutter höre, die um Thea trauert. Ganz sicher werde ich mich nicht zu ihr umdrehen. Ich mag den Anblick von verzweifelten Angehörigen nicht. Man möchte sie an den Schultern packen und sie anbrüllen, dass sie gefälligst froh sein sollen, noch ein Leben zu haben; dass sie hier sind und trauern dürfen; dass sie nicht gezwungen sind, ihre eigenen Kinder umzubringen …
Mit einem wütenden Tritt öffne ich die Tür und renne die Stufen hinab. Elf Stockwerke, lange Schritte, ein neuer Rekord zu Ehren von Thea. So schnell bin ich noch niemals im Foyer angekommen.
»Gute Nacht, Frau Sarkowitz«, ruft mir der Portier nach, ein junger Mann von höchstens achtzehn, der neue Zivi. Sie kommen und gehen so schnell, dass ich mir ihre Namen nicht merke. Ich hebe einfach die Hand und stürme hinaus.
Kann Scylla kommen und sie verjagen, Sia?
Ich habe einen Entschluss gefasst. Schon lange denke ich darüber nach, es zu tun, doch Thea hat nun den Ausschlag gegeben: Ich werde endlich all die Geschichten über das kleine Mädchen niederschreiben, die mich seit so langer Zeit verfolgen.
Eines ist sicher: Es werden erschreckende Geschichten sein. Denn ich spüre nicht nur den Tod – ich bin eine seiner Göttinnen.
1.
BUCH
Das Mädchen
I.
Kapitel
12. März 1670
Gruža (serbisches Gebiet), Osmanisches Reich
K ommen sie auch zu uns, Mutter?« Das kleine Mädchen blickte durch die halb blinden Fensterscheiben und ließ die Straße nicht aus den Augen, auf der die Soldaten durch den Regen von Haus zu Haus gingen. Sie gehörten, der einfachen Kleidung und Bewaffnung nach, zu den Hilfstruppen der türkischen Besatzer, vermutlich Freiwillige aus einem anderen Dorf. Der Kopf des Mädchens bewegte sich nach rechts und links, um an den undurchsichtigen Stellen im Glas vorbeizuschauen; auf dem zarten Gesicht spiegelte sich die Begeisterung wider.
»Das kann sein, Jitka.« Ihre Mutter trat hinter sie und legte die Hände auf die Schultern des Kindes. Sie teilte die Begeisterung nicht, aber es existierte auch kein Grund, weswegen sich Janja vor den Fremden fürchten sollte. Bei einer achtundzwanzigjährigen Witwe und einem acht Jahre alten Mädchen gab es nichts zu holen. Sie seufzte, richtete das einfache, dunkelbraune Kleid der Tochter und legte die zu einem Zopf gebundenen schwarzen Haare ordentlich auf den Rücken. Dabei beobachtete sie die Fenster der übrigen Fachwerkgebäude, hinter denen vereinzelte ängstliche Gesichter zu erkennen waren. Menschen, die ihre Häuser verlassen wollten, um mit den Soldaten zu sprechen, wurden mit deutlichen Gesten zurückgeschickt.
Jitka schaute nur kurz zu ihr auf, sie wollte die Männer nicht aus den Augen verlieren. »Darf ich mit ihnen gehen, Mutter?«
Janja sah sie erstaunt an und musste gegen ihren Willensogar auflachen. Ihre Tochter wurde mit den Jahren immer unerschrockener, ihr Abenteuerhunger war inzwischen im gesamten Dorf bekannt. »Sie würden dich nicht mitnehmen, meine Blume, denn …«
Etwas erregte ihre Aufmerksamkeit. Janja sah, wie ein gepanzerter Mann heranritt und zu ihrem kleinen, frei stehenden Haus am Ende der Straße herüberblickte; dann stieg er von seinem prunkvoll geschmückten und gerüsteten Pferd.
Ein Janitschar
, stellte sie erstaunt fest. Man erkannte diese gefürchteten Elitekrieger an ihrer besonderen Kleidung. Eigentlich war es Janitscharen verboten zu reiten, doch weit weg von Konstantinopel und ihrem Sultan erlaubten sie sich Besonderheiten, das wusste Janja.
Der Janitschar rief einen Mann in einem orientalischen Gewand zu sich, der von einem Schirmträger flankiert wurde, und sie redeten miteinander. Dass Hilfstruppen von einem derartigen Kämpfer begleitet wurden, war mehr als ungewöhnlich und vermutlich auch nicht gut. Normalerweise war es ihnen verboten, mit der Bevölkerung in Berührung zu kommen. Sie setzten sich aber über vieles hinweg, um sich Wohlstand und Macht zu sichern.
»Und warum würden sie das nicht, Mutter?«
Janja war in Gedanken. Sie hatte einmal gehört, dass es keine Übersetzung des Wortes gab, nur eine Umschreibung, die in etwa besagte, dass ein Janitschar ein unfreier Mensch war, der allein für den Krieg lebte. Dass einer von ihnen im Dorf auftauchte, machte sie unruhig.
»Sie mögen keine Mädchen«, antwortete
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