Kinder des Judas
atme das Gemisch aus Reinheit, Abgasen und anderen Gerüchen ein. Leipzig hat einen ganz bestimmten Geruch. Die Stadt wird mir sehr fehlen …
Mein PDA piepst, und ich nehme ihn aus der Manteltasche. 22.30 Uhr, noch eine halbe Stunde, bevor ich aufbrechen muss.
Mein Weg führt mich weiter in den Westen, an den Atlantik. In das französische Dorf in der Südbretagne, das mir schon einmal Unterschlupf bot. Es ist dort so ganz anders als in Leipzig – und genauso unvergleichlich.
Ich freue mich darauf, am Meer zu sitzen, die Wellen zu betrachten und das ewig gleichbleibende Geräusch zu hören. Ich werde das Salz von meinen Lippen lecken. Freiheit schmecken – und dem Ozean so nahe sein wie niemals zuvor. Es wird schmerzhaft werden, in die Fluten zu steigen und darin zu vergehen, doch einen besseren Tod kann ich mir nicht vorstellen. Das ewige Meer wird mich vollkommen auflösen, nichts wird von mir zurückbleiben. Keine Leiche, keine Fragen, ich verschwinde einfach.
Ich tippe auf meinem PDA herum und lasse die Liste aufleuchten. Meine schwierigste Aufgabe steht mir noch bevor.
Ich warte, bis ich gefahrlos über die Straße huschen kann, und gehe auf den Eingang des Hauses zu; meine rechte Hand langt auf die Klingelknöpfe und betätigt viele gleichzeitig. Gleich darauf wird mir von irgendeinem der Mieter geöffnet.
Ohne ein Geräusch zu verursachen, schlüpfe ich hinein und schließe die Tür so leise, dass niemand sie zufallen hört. Nach einer Minute eile ich lautlos die Stufen hinauf, bis ich in dem Stockwerk angekommen bin, in dem Elena und Emma wohnen.
Oder besser gesagt: bald nicht mehr wohnen wollen.
Sie haben einen Umzug arrangiert und ziehen weiter weg von Frick, damit er sie in Ruhe lässt.
Leichter können sie es mir nicht mehr machen.
Ihre Namen sind mit Salzteig geformt und an den Rahmen gehängt worden, zwei Weihnachtskugeln baumeln daran, und über der Tür hängt ein Mistelzweig. Wie letztes Jahr.
Marek hatte mir gedroht, dass nichts von mir bliebe, wenn ich ihm nicht nach Belgrad folge. Eine Drohung ohne wirkliche Gefahr. Wenn nichts mehr von mir bleibt, ist es umso besser.
Elena und Emma sind meine letzten Nachfahren und tragen ebenso wie ihre zahlreichen Vorfahren die Veranlagung zum Vampirdasein in sich. Ich habe es vor der Abreise nicht übers Herz gebracht, sie zu töten, aber jetzt …
Ich starre auf die Tür und rühre mich nicht.
Ist es gerecht, wenn ich hineingehe und ihnen die Köpfe abschneide? Sie zeigen beide keine Auffälligkeiten, sind die Freundlichkeit in Person. Elena weist durchaus Anzeichen für ein großes mathematisches Talent auf, was eine kommende Forscherin verspricht. Aber ebenso, sagt mir eine andere Stimme, kann es sein, dass sie morgen vom Bus überrollt und aus dem Grab steigend zur mordenden Bestie wird, die für Aufsehen sorgt. Wie ich es einst war.
Tu es
, ruft das Wissen in mir, und das Gewissen schweigt. Eshat wohl zu viel gesehen, um sich zu rühren.
Schließe mit dem alten Leben ab. Und hinterlasse nichts.
Meine Hand hebt sich, ich drücke den Klingelknopf. Es ist ein melodischer Ton, der aus den Räumen dahinter dringt, dann vernehme ich rasche Schritte. Der Eingang öffnet sich, und ich schaue in die wunderschönen Augen Elenas.
Sie stutzt, als sie mich sieht. »Ja?« Sie trägt einen hellgrünen Pullover, dazu schwarze Leggins und Hauspantoffeln mit Tigerkrallen; die langen braunen Haare hat sie zu zwei Zöpfen geflochten, die rechts und links am Hinterkopf abstehen.
Sie ist mein Fleisch und Blut. Es bedarf keines langen Blicks, und ich erkenne die Ähnlichkeit in ihrem Gesicht. Es ist die Wangenpartie, die später einmal die gleiche Ausprägung wie bei ihrer Mutter haben wird.
»Hallo«, sage ich freundlich und gehe in die Hocke. Ich habe den Eindruck, dass meine Stimme belegt ist. »Ist deine Mutter da?«
»Ja. Soll ich sie rufen?« Sie wendet sich nach hinten. »Mama, da ist eine Frau an unserer Tür. Die will dich sprechen.«
»Ich komme«, ruft Emma aus der Küche. Ich kenne die Wohnung in- und auswendig, so dass ich den Ort, von dem die Stimme der Frau kommt, exakt zuordnen kann. Papier raschelt, vielleicht ist sie gerade damit beschäftigt, die Tassen und Teller für den Umzug einzuwickeln.
Elena schaut mich wieder an. »Was wollen Sie denn?«
»Etwas fragen.«
Sie schiebt die Tür ein Stück zu. »Wir kaufen aber nichts.«
Ich lächle. »Keine Sorge. Es geht nicht um …«
Die Tür wird wieder etwas weiter geöffnet, und Emma
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