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Kinder des Judas

Titel: Kinder des Judas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Heitz , Markus Heitz
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noch weiterschreiben, sobald ich von der Schicht komme. Dann müsste es fünf Uhr sein, und ich werde wie immer hellwach sein. Aufgeputscht und etwas überdreht. Die Energie nutze ich, um die Geschichte fortzuführen.
     
    Elena und Emma sind auf dem Rückweg, es geht die Fußgängerzone zurück in Richtung Bahnhof. Schließlich stehen wir auf demselben S-Bahn-Gleis, natürlich etliche Meter voneinander entfernt. Von Frick keine Spur. Gut so. Dieses Mal hätte ich ihn vor die Bahn gestoßen.
    Im Abteil beobachte ich Mutter und Tochter über die Zeitung meines Vordermannes hinweg. Wie groß die Kleine geworden ist, und dabei sehe ich sie mindestens einmal die Woche! Elena erzählt mit Händen und Füßen, Emma lacht und freut sich. Ich kann nicht anders, als zu lächeln und mich mit ihnen zu amüsieren.
    Der Gedanke, dass ich sie vielleicht töten muss, ist jedoch immer präsent und trübt solche seltenen Glücksmomente. Stets drängt sich mir die Frage auf, ob ich es übers Herz bringen werde, das Leben eines Mädchens zu nehmen? Ein Mädchen, das so unschuldig ist wie Thea. Bei Erwachsenen fällt es mir leichter. Sie haben bereits ein Leben gelebt, bevor ich eingreife.
    Es ist keine sehr dankbare Aufgabe, der ich mich immer wieder stellen muss. Aber es gibt niemanden, der sie übernehmen könnte.
    Elena und Emma steigen in der Karl-Liebknecht-Straße aus. Ich folge ihnen und achte darauf, dass sie sicher nach Hause kommen. Erst als sie hinter der Eingangstür gleich neben einem Comic-Laden verschwunden sind, bin ich aus der Pflicht. Für heute.
    Ich fühle mich wie ein Hirte, der seine Schäfchen nur aus dem Verborgenen heraus behüten kann.
Sarah Ulmann, Hendrik Lobitsch, Emma und Elena Karkow
. Obwohl sie demselben Familienstamm entsprungen sind, kennen sie sich nicht untereinander. Emma wurde sehr früh zur Adoption freigegeben. Niemand aus ihrer alten Familie weiß, dass sie noch lebt. Sonst würde Frau Ulmann unter Umständen nicht allein in dem großen Haus leben, sondern hätte ihre Enkelin und Urenkelin bei sich aufgenommen.
    Ich nehme meine Aufgabe sehr ernst. Meine Herde ist über Leipzig verstreut, was es nicht einfach macht; doch früher war sie viel größer und über ganz Europa verbreitet.
    Im dritten Stockwerk flammen die Lichter auf, die kleine Familie ist angekommen. Ich hebe den Kopf und sehe an der alten Fassade hinauf. Ein Schatten bewegt sich am Fenster, Kerzen werden entzündet. Wahrscheinlich bekommt die Kleine heißen Kakao und ein paar selbstgemachte Plätzchen; es duftet überall in der Wohnung danach. Sie werden über die Dinge in den Schaufenstern reden, den Wunschzettel noch einmal durchgehen, ein bisschen Fernsehen schauen, und danach wird Emma ihre Tochter zu Bett bringen. Ich kenne ihr Leben sehr genau, obwohl ich mir nie erlauben darf, wirklich zu einem Teil davon zu werden.
     
    Mit schnellen Schritten gehe ich die Straße entlang zur Moritzbastei, wo ich heute Abend Dienst habe. Eine Sonderveranstaltung in der
Veranstaltungstonne
, wie das Gewölbe heißt. Ein Konzert von
Das Ich
. Vermutlich wird es brechend voll. Icharbeite für einen Sicherheitsdienst und werde später an der Tür stehen und zusammen mit meinen Kollegen die Besucher überprüfen.
    Ich erreiche den kleinen Seiteneingang der Moritzbastei, das sehr große, ausufernde, Hunderte von Jahren alte Gewölbesystem einer Festung, in dem Cafés, Bars und Konzerträume untergebracht sind. Ich liebe diesen Ort.
    »Hallo, Sia«, grüßt mich Marko, ein aknenarbiger Riese mit einer Glatze und mein direkter Vorgesetzter, der im Eingang steht und eine Zigarette raucht.
    »Hallo, Chef.« Ich nicke ihm zu. »Wolltest du nicht aufhören?«
    »Ja.« Er inhaliert die giftigen Dämpfe. »
Wollte
ich.«
    Im Vorbeigehen klopfe ich ihm auf die Schulter. »Dann versuch’s mal schön weiter, bevor dich der Krebs erwischt.«
    Er verzieht nur das Gesicht und erinnert mich an Queequeg, den Walfänger aus
Moby Dick
. Natürlich weiß er, was ihm droht, aber wie allen Rauchern ist es ihm egal.
    Bei ihm bin ich mir nicht sicher, was den Tod angeht. Gelegentlich beschleicht mich das Gefühl, dass er sich in der Nähe von Marko herumtreibt, aber dann ist es auch wieder verschwunden. Er lauert.
    Ich öffne die Tür, bleibe stehen und schaue ihn eindringlich an. »Ehrlich, Chef. Hör mit dem Qualmen auf. Du wirst sonst daran zugrunde gehen.« Meine Augen fangen seinen Blick auf und lassen ihn nicht mehr los. »Ich meine das vollkommen ernst«,

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