Kinder des Judas
ihnen stumm eine schöne Feier und ein langes Leben. Schon im eigenen Interesse.
Ich scrolle nach unten. Der PDA zeigt mir die Namen derer, die keine Geburtstage mehr feiern: Männer, Frauen, Kinder, deutsche Namen, französische Namen, serbische Namen, ein Italiener ist dazwischengerutscht. Alle sind fein säuberlich durchgestrichen. Dahinter sind die Daten vermerkt, wann sie zur Welt kamen und wann sie starben, ohne zu wissen, dass sie mit mir verwandt waren.
Noch immer habe ich die Angewohnheit, in Sütterlin zu schreiben, weil ich den Schwung sehr elegant finde. Und es hat den Vorteil, dass es die meisten nicht mehr lesen können, falls jemand zufällig einen Blick auf meine Liste werfen würde. Die Menschen machen sich gar nicht mehr bewusst, wie sehr sich das Schriftbild der deutschen Sprache verändert hat, einmal abgesehen von Rechtschreibreformen und Fremdwortattacken. Gotische Kursive, Fraktur, Kurrent, was gab es nicht alles.
Mein Cocktail kommt, Richard stellt außerdem eine Schale mit Erdnüssen dazu. Das
Mephisto
ist gut besucht, Einheimische und Touristen sind hier gleichermaßen zu finden. Hinter mir erklingt plötzlich ein teuflisches Lachen. Einige Gäste erschrecken, aber ich weiß, dass sich im großen Spiegel an der Wand Mephisto gezeigt hat und gleich darauf wieder verschwindet. Ein einfacher, aber wirksamer Effekt.
Mein Sorgenkind ist Hendrik Lobitsch. Er wohnt in Leipzig, nicht weit vom Bahnhof entfernt. Ich weiß nicht, was ich mit ihm machen soll … und schon wieder werden meine Gedanken unterbrochen.
Vor dem Fenster schlendert eine junge Frau vorbei, die ein Kind an der Hand hält. Gemeinsam betrachten sie die Auslagen in den Geschäften, immer wieder geht die junge Mutter neben der Tochter in die Hocke und erklärt ihr etwas. Man sieht ihrer Kleidung an, dass sie nicht zur Geldelite der Stadt gehören. Vermutlich stammen die Hosen, Pullis und Jacken aus einem Textil-Discounter. Mir wird unwohl, weil ich an die Giftbelastungen denke, die manche billigen Kleidungsstücke in sich bergen. Nicht alle besitzen diesen Nachteil, aber es gibt leider genügend. Ärgerlich verscheuche ich den Gedanken. Es ist besser, eine kühle Beobachterin zu bleiben, wenn ich meine Aufgabe erfüllen will. Emma und Elena laufen oft um diese Uhrzeit durch die Passage. Die beiden sind ein sehr hübsches Paar. Sie kennen mich nicht, aber ich weiß vieles über sie.
Emma ist ungewollt schwanger geworden, managt ihr Leben allein, studiert Jura im achten Semester und wird von ihren Professoren ebenso geschätzt wie von ihren Kommilitonen beneidet. Elena war ein Frühchen und kam in der zweiunddreißigsten Woche zur Welt. Zurückbehalten hat sie lediglich eine leichte Sehbehinderung, die sich aber noch legen kann. In der Kindertagesstätte, von der Emma sie heute wie jeden Tag abgeholt hat, ist Elena sehr beliebt und vor allem durch ihre Sportlichkeit und ihre Körperbeherrschung aufgefallen, was in diesem Alter ungewöhnlich ist. Ganz wie ihre Mutter.
Ich sehe die beiden um die Ecke biegen. Rasch leere ich mein Glas, lege einen Geldschein auf den Tisch und laufe hinaus. Mir ist nicht wohl, etwas wird sich heute ereignen, bei dem Elena und Emma im Mittelpunkt stehen. Aber ich werde da sein.
Mutter und Tochter flanieren noch eine Weile durch die Passage, bis Elena die Lust verlässt. Sie drehen sich plötzlich um und kommen mir entgegen.
Sofort wechsele ich die Seite und tue so, als interessierte ich mich für Zigarren. In Wirklichkeit hasse ich diese Dinger, sie schmecken schlecht und verpesten Räume auf Jahrzehnte hin mit ihrem Qualm. Selbst wenn der Raucher schon lange im Grab liegt und verwest ist, riecht man die Zigarren, die er gequalmt hat, noch immer aus den Wänden und Decken seiner Wohnung.
Elena hüpft an mir vorbei, Emma wirft mir im Vorbeigehen einen kurzen Blick zu, wie ich im Glas der Schaufensterscheibe sehe. Hat sie mich erkannt? Bin ich den beiden zu oft zu nahe gekommen?
Aber sie nimmt ihre Tochter an die Hand und marschiert weiter, ohne sich um mich zu kümmern. Sicherheitshalber warte ich noch ein wenig, bis ich ihnen folge. Ein Glücksfall. Denn so entdecke ich den langen, dünnen Mann, der durch den zweiten Eingang der Passage kommt und ihnen folgt.
Ich kenne ihn, auch wenn er nicht auf meiner Liste steht. Uwe Frick, einunddreißig Jahre. Er ist Elenas Vater, ein rücksichtsloses Vorzeige-Arschloch, der um das Sorgerecht streitet und sie partout bei sich haben will. Obwohl man es seiner
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