Kinder des Judas
füge ich dunkler hinzu. Sofort schnippt er die Kippe fort.
»Besser jetzt und sofort als vielleicht und irgendwann«, kommentiert er seine Handlung, doch man sieht ihm an, dass er selbst von sich überrascht ist.
Ich lächele ihn an. »Sehr gut, Chef. Ich passe auf, dass du dich daran hältst.«
Keine halbe Stunde später stehe ich mit drei Kollegen an der Eingangskontrolle. Ich habe meinen Kaschmirmantel gegeneine schwarze Lederjacke getauscht, bei Schlägereien ist sie robuster und hält mehr aus; trotzdem hat sie nicht weniger als mein Mantel gekostet.
Eine eindrucksvolle Menge drängt sich vor dem Eingang. Sie alle wollen die musikalischen Urgesteine der Gothic-Szene live erleben, doch es ist nicht viel Platz in der Tonne.
Meine Augen sind geschult, ich erkenne, wer eine Waffe dabeihat und wer nicht, und muss dafür in den meisten Fällen nicht einmal einen Blick in ihre Gesichter werfen. Die Körpersprache verrät mehr, als man für möglich halten sollte. Gezielt greife ich die Typen ab und durchsuche sie. Es beschwert sich keiner von den Jungs, dass er von einer Frau angepackt wird. Kein Wunder.
Ich bin wieder fündig geworden. Ein Kampfmesser im Stiefelschaft – kein besonders originelles Versteck. Ich reiche Marko die verbotene Waffe nach hinten, herrsche den jungen Mann vor mir unwirsch an: »Was willst du mit dem Ding?« – und stocke vor Erstaunen.
Die markanten Züge des Achtzehnjährigen erinnern mich an eine längst vergessene Zeit aus meiner Jugend. Jene, die schön war, voller neuer Eindrücke und sogar Liebe. Romantischschwärmerischer Liebe.
Es existiert die Theorie, dass es vom Gesicht eines jeden Menschen ein identisches Gegenstück irgendwo auf der Welt gibt. Mir war nicht bewusst, dass sich diese Theorie auch auf andere Zeiten beziehen kann. Doch das Gesicht des jungen Mannes vor mir beweist ihre Richtigkeit.
Ich schlucke, sehe in die tiefbraunen Augen und suche darin nach … ja, nach was genau? Einem erstaunten Funkeln vielleicht, einem Erkennen, einem Zeichen, dass dies nicht nur ein grausamer Streich ist, den mir die Natur spielt, sondern dass so etwas wie Wiedergeburt möglich ist.
»Du …«
Er weicht vor mir zurück. »Das ist doch nur wegen der Nazis. Falls welche nach dem Konzert auftauchen und Stunk machen«, antwortet er, ehrlich erschrocken. »Normalerweise gebe ich es gleich an der Garderobe ab.«
Eigentlich wäre es jetzt an mir, etwas zu sagen. Die Regeln sind klar: Wer versucht, eine Waffe in die Tonne zu schmuggeln, bekommt sofort Hausverbot. Doch ich habe mich noch nicht erholt. Von dem Schreck, der Freude, der Überwältigung. Es kostet mich große Mühe, um nicht die Hand zu heben und seine Wange zu berühren, um die Wärme seines Gesichts zu spüren.
»Wie ist dein Name?« Die Worte rinnen zäh wie Sirup über meine Lippen und scheinen auf den Boden zu tropfen und nicht bis zu ihm zu reichen. Mir wird bewusst, dass ich geflüstert habe. »Wie ist dein Name?«, wiederhole ich meine Frage lauter.
Er schaut nervös. »Warum? Bekomme ich Ärger?«
Die Menge hinter ihm murrt, sie wollen endlich in die Tonne.
Marko schiebt sich nach vorne. »Kann man so sagen. Dein Messer hat dich um den Eintritt gebracht, Junge.« Er schiebt ihn an der Brust nach hinten. »Steht klar bei den AGBs auf deiner Eintrittskarte.«
»Aber du hast es doch jetzt«, versucht er zu argumentieren. Dieser Ausdruck von Furcht, von Hoffnungslosigkeit, von sinnlosem Aufbegehren … Das ist keine einfache Ähnlichkeit. Er
muss
der Zwillingsbruder sein! Ich bin mehr und mehr verwirrt, die Erinnerung mischt sich mit der Gegenwart und bildet einen Strudel, der mein klares Denken in sich saugt und von mir fortreißt.
»Mach keinen Aufstand, mein Freund«, sagt Marko freundlich, aber fest und mit drohendem Unterton. »Sia, bring ihn raus.«
Mein Herz und mein Verstand haben sich voneinander abgekoppelt, eine andere Persönlichkeit scheint in mich gefahren zu sein, denn ich mache einen Schritt zur Seite, packe den jungen Mann am Kragen seiner Lederjacke und ziehe ihn vorwärts, durch den Eingang in die Tonne. »Ausnahmsweise«, sage ich heiser und schubse ihn, damit er in die Menge eintaucht, ehe ihn Marko greifen und an die frische Luft befördern kann.
Jemand aus den Reihen der Wartenden pfeift, andere klatschen Beifall, ohne dass ich weiß, ob sie mich verhöhnen oder feiern wollen; mechanisch setze ich die Untersuchung fort.
»Was sollte das?«, flüstert mir Marko zu. Er klingt wirklich
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