Kinder des Judas
wütend.
»Der war harmlos. Nur ein bisschen schusslig«, sage ich und schaue ihn nicht an, während ich beim Abtasten eines Mädchens in die Hocke gehe und seine Beine abklopfe. »Er hat sein Messer verloren, das wird ihm eine Lehre gewesen sein.«
Marko sagt nichts weiter. Es ist sowieso zu spät. Doch ich kann mir mit Sicherheit in meiner Pause einiges von ihm anhören.
Ich kämpfe mit meinen irritierenden Emotionen und den unablässig hereinströmenden Gästen gleichermaßen. Meine Finger arbeiten so schnell, wie sie können, doch ich habe das Gefühl, dass es nicht vorwärtsgeht. Eine Hand auf meiner Schulter reißt mich unsanft aus meinen Gedanken. »Marko sagt, du sollst mal für eine halbe Stunde an die frische Luft«, vermeldet Michèle, meine Ablösung.
Draußen, im Innenhof, lasse ich mich benommen auf einen Stuhl fallen, stütze die Ellbogen auf die Knie und starre ins Leere. Meine Erinnerungen überrollen mich wie eine Welle und lassen mich die Gegenwart vergessen. Stattdessen höre, sehe, rieche, fühle ich Dinge, die ich lange hinter mir gelassen habe.
Verfluchter Junge!
Er hat mich durcheinandergebracht, bloß weil er mich an jemanden erinnert hat, der schon so lange tot ist.
Schwere Schritte kommen von hinten auf mich zu. Marko taucht auf und nimmt mir gegenüber Platz. »Was ist los mit dir?«, will er wissen. »Bist du krank?«
Ich schüttelte den Kopf. Mein langer Zopf streicht über die Lederjacke wie ein schlaffer, zu langer Pinsel. »Nein, ich bin fit, Chef.«
Marko betrachtet mein Gesicht. »Wenn du mich fragst, bist du tierisch müde, Sia.«
Müdigkeit ist der falsche Begriff. Sieht man mir mein wahres Alter letztlich doch an? Geht es mit mir zu Ende, und sollte ich mich mit dem Schreiben besser beeilen? Beruhigenderweise fühle mich sehr lebendig. Das Buch muss jedenfalls fertig werden, auch wenn ich noch nicht weiß, was ich anschließend damit mache. Vielleicht kann es mir gelingen, die Gefühle, die tief in mir verborgen sind und nur darauf warten, an die Oberfläche zu kommen und mich zu quälen, genau so leicht auf Papier zu bannen wie die Geschichte von Scylla. Aber danach?
»Wahrscheinlich hast du recht.« Ich lächele ihn an. »Mit siebenunddreißig wird man schneller müde.«
Er sucht eine Zigarette, zündet sie an. »Willst du früher Schluss machen? Michèle kann für dich einspringen, ich habe sie gefragt.«
Meine Linke greift nach seiner Kippe und zieht sie ihm zwischen den Lippen weg. Ich lasse sie auf den Boden fallen und zerstampfe sie mit dem Stiefelabsatz. Er protestiert nicht. Gut so. Also will er
doch
aufhören. »Nein, Chef. Gibt mir noch meine dreißig Minuten, und ich bin wieder deine beste Frau an der Tür.«
Seine Stirn legt sich in Falten. »Eigentlich ist deine Pause um, Sia.« Marko steht auf und stapft zum Eingang zurück. »Ich gebedir noch mal zehn Minuten, dann will ich dich wieder drinnen sehen.«
Ich hebe die Hand, etwas entsetzt schaue ich auf meine Uhr. Tatsächlich, ich sitze schon über dreißig Minuten im Innenhof, ohne dass ich gemerkt habe, wie sich die Zeiger bewegt haben.
Verdammter Junge
.
Als ich aufstehe, um zurückzugehen, sehe ich einen Mann auf mich zukommen, der nicht nur durch sein weißes Outfit in der schwarzen Masse der Gothics auffällt. Er ist ein absoluter Augenfänger – und hat Geschmack: Die Stoffhose sieht nicht wie von der Stange aus, der weiße Mantel sitzt maßgeschneidert am schmalen Körper; an den Händen und Füßen trägt er nachtschwarzes Leder. Die grauen Haare, die Haut auf seinen Wangen und an seinem Hals verraten, dass der Mann alt ist. Ich schätze ihn auf sechzig Jahre.
Es gibt jüngere Menschen als ihn, die derart kraftlos wirken, dass man ihnen bei allem helfen möchte, was sie tun. Dieser Mann jedoch besitzt den aufrechten, stolzen Gang eines Herrschers. Die Energie, die jede seiner Bewegungen geschmeidig wirken lässt, ist nicht zu übersehen.
Ich bin nicht die Einzige, die den neuen Besucher bemerkt, zahlreiche Gothic-Damen wenden sich zu ihm um. Er hat eine Aura, die man förmlich greifen kann – und die ich
kenne!
Noch mehr Erinnerungen kommen aus den hintersten Winkeln meines Geistes geschossen und mischen sich zu den anderen. Mein erster Impuls ist, davonzulaufen, obwohl ich genau weiß, dass es sinnlos wäre. Wenn es ihm gelungen ist, mich in Leipzig aufzuspüren, wird er mich überall finden. Das war immer schon sein besonderes Talent. Die entscheidende Frage ist,
warum
er nach all den
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