Kinder des Judas
langer schwarzer Mantel aus reiner Kaschmirwolle hebt mich endgültig von den Menschen auf der Straße ab, auch wenn dies vielen nicht auffallen wird. Es ist ein besonderer Luxus, sich mit edlen Teilen zu verwöhnen, denen man ihren hohen Preis nicht sofort ansieht.
Unter den Mantel, an den Gürtel der Hose, kommt mein Accessoire, ohne das ich niemals aus dem Haus gehe.
Mein Blick bleibt an den vielen handgeschriebenen Seiten hängen, die auf meinem Schreibtisch verteilt sind. Es sind die ersten Kapitel der Geschichte über das Mädchen, und ich bin mit ihnen zufrieden. Ich hätte es viel früher tun sollen. Damitich nicht durcheinanderkomme, werde ich sie in einer Kladde aufbewahren.
Raus aus dem Appartement, das Treppenhaus runter, zur SBahn, die mich ins Zentrum bringt. Leipzig ist eine wundervolle Stadt, mir gefällt das Dunkle und Düstere, dieser einmalige Charme, den sie gerade in den Herbst- und Wintermonaten verströmt.
Vor allem die Gothics, die man hier überall sehen kann, finde ich interessant. Die jungen Leute, die sich in Schwarz kleiden und Lieder über Tod, Verderben, Verfall und das Jenseits hören, einen ungeheuren Seelenschmerz in sich tragen und sich dennoch nach dem Leben sehnen, geben der Stadt eine besondere Würze. Was mich mit ihnen verbindet, ist der Widerspruch.
Ich mache mir immer wieder den Spaß, einen von ihnen anzuhalten und zu fragen, warum er oder sie sich nicht umbringt, wenn sie den Tod doch so faszinierend finden und sich wie besessen mit dem Leben danach beschäftigen. Es gibt sehr unterschiedliche Antworten darauf, mal sinnvolle, mal sinnlose. Einer, ein junger Typ mit weißgeschminktem Gesicht und dramatisch schwarz umrandeten Augen, hat mich angestarrt und gesagt, dass ihn das noch niemand gefragt hätte. »Wie sind Sie denn drauf?«, wollte er noch wissen und ist weitergegangen.
Wie bin ich eigentlich drauf?
Eine nicht unwichtige Frage, die ich mir selbst nicht beantworten kann. Auch ich sehne mich nach dem Tod, sterbe jedes Mal ein bisschen mit meinen Patienten, ohne ihnen gänzlich folgen zu können. Ohne ihnen folgen zu
dürfen
.
Warum bringe ich mich nicht um?
Warum lasse ich mir im Ring Schmerzen zufügen, nur um wieder spüren zu können, wie das Leben sich anfühlt, an dem ich doch so wenig hänge?
Es ist meine Aufgabe, die mich zurückhält, und das GebotGottes, das verbietet, sich selbst das Leben zu nehmen. Darin liegt die Ironie meiner Existenz: Obwohl all jene, die reinen Glaubens sind, mich liebend gerne tot sehen möchten, wird Gott mich ewig leben lassen. Falls ich nicht das Glück habe, die Treppe hinabzustürzen und mir das Genick zu brechen, oder mich eine S-Bahn überrollt und meinen Leib in gnädig viele kleine Stücke zerteilt.
Mein Weg führt mich die Fußgängerzone hinauf, vorbei an Läden und Hotels, an den Eingängen zu den Einkaufspassagen, die nach der Wende in die Häuser und Hinterhöfe integriert wurden. Der Jugendstil ist an diesen Orten deutlich zu erkennen. Mehr als einmal bleibe ich stehen und betrachte die Statuen und Steinköpfe an den Fassaden. Der Duft von Glühwein und heißen Maronen umweht mich und weckt Erinnerungen … die durch ein leises, aber aufdringliches Piepsen aus meiner Manteltasche verdrängt werden. Mein PDA meldet mir, dass ich pünktlich sein muss. Ich beschleunige meine Schritte und mache mich auf ins
Mephisto
, eine kleine Cocktailbar oberhalb von
Auerbachs Keller
, die ich bald darauf erreicht habe.
Mein Platz ist so gewählt, dass ich die Passage draußen im Blick habe. Ich nehme meinen Taschencomputer heraus und rufe die handgeschriebene Liste auf, die nur noch aus vier Namen besteht; einst waren es siebenundzwanzig.
»Was darf ich Ihnen denn bringen?«, fragt die Bedienung neben mir, ein älterer Mann mit weißem Hemd, schwarzen Hosen und roten Hosenträgern. Er heißt Richard, ist dreiundvierzig Jahre und sollte eigentlich wissen, was ich möchte. Ich hebe den Kopf.
»Oh, Frau Sarkowitz. Entschuldigung, wie konnte ich Sie nur übersehen? Einen Golden Dream?« Ich nicke, und er verschwindet hinter der Bar.
Meine Augen richten sich auf die Namen:
Sarah Ulmann, 73 Jahre
Hendrik Lobitsch, 47 Jahre
Emma Karkow, 25 Jahre
Elena Karkow, vier Jahre
Ich kenne diese Liste auswendig, doch es ist eine Angewohnheit, sie immer wieder zu betrachten. Sie verändert sich nur viermal im Jahr, und zwar immer dann, wenn einer von ihnen Geburtstag hat. Wenn ich ihr neues Alter eintrage, wünsche ich
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