Kinder des Judas
Jahren hier auftaucht. Meine Rechte wandert unter die Jacke auf den Rücken und greift nach dem Accessoire.
Er kommt näher und exakt auf mich zu, ich erkenne seine Züge jetzt deutlich und sehe, dass er die sechzig Jahre schon lange und deutlich überschritten hat. Er sieht mitten in den jungen Menschen bizarr und fehl am Platz aus.
Ich schaue in ein Paar blaue, fast violette Augen. Es gibt keinen Zweifel. Weder habe ich mich geirrt, noch ist mein Verstand durch die Begegnung mit dem Jungen in solche Aufregung versetzt worden, dass ich Gespenster sehe. Auch wenn ich diesen Mann viel, viel jünger kenne.
Er bleibt vor mir stehen. »Meine teure
Schwester«
, flüstert er mit regungsloser Miene.
Mir fährt ein Eissturm durch den Magen und gefriert meine Körpermitte zu einem Klumpen. Meine Zunge liegt wie tot in meinem Mund, ich kann sie nicht bewegen und nichts erwidern, sondern starre das vertraute, aber gealterte Gesicht an. Eine uralte Vergangenheit hat mich eingeholt.
»Schau mich an«, verlangt er leise. »Ich bin alles, was übriggeblieben ist. Ich bin die Cognatio. Alle anderen sind ausgelöscht worden, von den Emporkömmlingen, vom Abschaum, von dem minderwertigen Zeug, das aus den Bodenlöchern kriecht.«
Ich schlucke schwer, wie gebannt von seinen merkwürdigen Augen, und weiß nicht, was ich tun soll. Will er mich umbringen? Es würde ein harter Kampf gegen ihn, dessen Ende ich nicht voraussagen kann. Mein Bruder ist schnell und sehr gut im Umgang mit der Klinge. Aber nein: Er liebt es, aus dem Hinterhalt anzugreifen. Wenn er mir hier mitten in der Öffentlichkeit gegenübertritt, plant er Schlimmeres als tödliche Messerstiche.
Er sieht mich an, lächelt mit der für ihn so typischen Mischung aus Verachtung und Entzücken. Die Schwäche für mich hat er nicht verloren. »Du bist ja vollkommen verunsichert, Sia.« Er legt amüsiert die Finger seiner Linken an den kurzrasiertenKinnbart. »Sollte es wirklich möglich sein, dass in all den vielen Jahren niemand von unserer Art zu dir gekommen ist?«
Marko ist auf uns aufmerksam geworden. »Alles klar bei dir, Sia?«, ruft er mir zu. Ich kann die Besorgnis in seiner Stimme hören und weiß, dass er gleich herüberkommen wird, um mich zu verteidigen. Ich schüttle endlich die Erstarrung aus meinem Körper und gebe ein Zeichen, dass alles in Ordnung ist. Es stimmt zwar nicht, aber ich möchte verhindern, dass mein Bruder ihn vor aller Augen mit seiner Klinge in zwei Stücke schneidet. Oder ihn mit bloßen Händen zerfetzt.
»Es haben mich viele gesucht – aber ich habe sie stets umgebracht, bevor sie mich fanden«, verbessere ich ihn kalt. »Du solltest mich besser kennen, Marek.«
»Sie kamen nicht von mir, Sia«, versichert er rasch.
»Das werde ich dir kaum glauben.« Er hat seine herrschaftliche Art nicht verloren, auch wenn sich die Zeiten für Kreaturen wie ihn zum Schlechten gewandelt haben. »Du lügst mit jedem Atemzug«, schieße ich zurück. »Und doch hoffe ich, dass du in einem Punkt die Wahrheit sagst: Die Cognatio ist ausgelöscht worden? Der große, mächtige Bund der Kinder des Judas? Das höre ich gerne!«
»Er ist wegen dir zerbrochen, Schwester«, wirft er mir vor. »Die Frage nach deinem Schicksal hat einen Keil zwischen uns getrieben und uns die Kraft der Einigkeit genommen.«
Ich lache, laut und deutlich. »Einigkeit? Ihr wart euch doch immer nur über eine Sache einig: eure Gier nach Macht. Macht und ewiges Leben.«
Er sieht mich böse an. »Du weißt, dass das nicht stimmt.«
»Du wirst es immer leugnen, Bruder, wie ein kleines Kind, dem genommen wird, was es am meisten liebt. Die Cognatio«, ich mache einen Schritt auf ihn zu, »war niemals mehr als eine Vereinigung von selbstsüchtigen Männern und Frauen. Früheroder später wärt ihr übereinander hergefallen, ob nun mit mir oder ohne mich.«
Marek weicht zurück. »Egal, was du sagst, Sia, es ist deine Schuld, dass die Familie zerfallen ist«, beharrt er stur. »Keiner erkannte mehr die Autorität des Ischariot an, die Kämpfe begannen. Die Kinder des Judas wurden zu wilden Wölfen und …«
»Du tust den Tieren unrecht«, falle ich ihm ins Wort. »Wie ging es weiter?«
Er steckt die Hände in die Taschen, und ich versteife mich. Erfolgt etwa doch gleich ein Angriff? »Wir schwächten uns selbst … und dann nutzten die Upire ihre Chance. Anfangs hielten wir ihnen stand, doch bald stellte sich heraus, dass einer von uns mit ihnen gemeinsame Sache machte: Jemand
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