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Kinder des Judas

Titel: Kinder des Judas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Heitz , Markus Heitz
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Weiß verborgen lag wie das Land ringsum. Fast schien es so, als wäre alles Leben aus der Welt gewichen. Doch dann erhob sich krächzend eine Rabenschar, die sich in die eiskalte Luft aufschwang und sich zu den Behausungen der Menschen tragen ließ. Vielleicht hofften die Vögel, auf einem der Misthaufen die Reste eines Mahls zu finden. Zumindest würden ihnen die Scheunen einen besseren Unterschlupf vor dem Winter bieten als der Wald.
    Scylla beneidete die Raben. Nichts vermochte sie aufzuhalten, sie konnten fliegen, wohin sie wollten und wann immer sie Lust dazu verspürten, während sie wie eine Gefangene lebte. Sie seufzte und suchte vergebens nach der Sonne, doch die dichte Wolkendecke schirmte das Taggestirn von der Welt ab.
    Das Grau, das mal heller und mal dunkler wurde, schlug Scylla aufs Gemüt. Nicht mal das Forschen bereitete ihr noch Vergnügen; immer wieder schweiften ihre Gedanken zu Giure, dem Hirtenjungen und einzigen Freund, den sie hatte. Ihrer einzigen Verbindung zu jener anderen Welt, die es dort draußen gab.
    Sie stellte sich vor, wie er zusammen mit seiner Familie lebte. Wie sie mit Freunden am Tisch saßen und auf das alte Jahr tranken, das heute endete. Scylla wollte ihm wieder begegnen, mit ihm sprechen, seine Stimme hören und lauschen, wie er Lieder zum Besten gab.
Wer singt, trägt das Gute in sich
, hatte ihre Mutter immer gesagt.
    Scylla schüttelte sich, es wurde ihr zu kalt. Ein letztes Mal schaute sie über den abendlichen Wald, dann wandte sie sich um und drehte sich zur Luke, die nach unten führte.
    Sie war geschlossen.
    Hatte der Wind sie zugeschlagen? Aber warum hatte sie dann keinen Knall gehört?
    Als Scylla an dem schweren Eisenring zog, bewegte sich die Abdeckung keinen Nagelbreit. Jemand musste sie verriegelt haben – doch Karol wusste, dass sie sich im Freien befand. Eine Bestrafung für Ungehorsam kam nicht in Frage, da sie sich keiner Schuld bewusst war. Von daher konnte dies nur ein unglücklicher Zufall sein oder …
    Sie dachte an den Umbra. Allein der Gedanke an das schwarze Schattenwesen genügte, um sie anzuspornen, so rasch wie möglich einen Weg ins Innere zu finden und nach dem Rechten zu sehen.
    Das Rufen sparte sie sich, Karol würde sie nicht hören. Aber sie wusste sofort, wie sie zumindest von der Plattform gelangte. Nach ein paar Schritten stand sie auf der Brüstung und wartete, bis der nächste Flügel an ihr vorbeikam. Sie verschwendete keinen Gedanken daran, dass sie abstürzen könnte. Als der Rahmen senkrecht vor ihr stand, stieß sich Scylla ab. Ihre Hände packten die Holzleiste. Es gelang ihr, sich rittlings auf den Rahmen zu schwingen. Für einen kurzen Moment schien die Zeit stillzustehen – doch dann setzte der Flügel seine Fahrt unbeirrt fort. Während er sich nach unten bewegte, ließ Scylla sich vorsichtig an ihm hinabgleiten. Schließlich schaffte sie es, umzugreifen und sich mit den Füßen nach unten baumeln zu lassen. Als der Flügel wieder senkrecht stand, atmete sie noch einmal tief ein – und ließ los.
    Der kurze Sturz endete in federndem Weiß. Der Schnee dämpfte den Aufprall aus drei Schritt Höhe, dennoch fuhr ihr die Luft aus dem Leib, ein Stechen jagte die Beine und das Rückgrat hinauf, und sie konnte sich zunächst nicht bewegen.
    Scylla benötigte zwei Anläufe, bis sie sicher auf den Füßen stand. Dann ging sie zur Tür und zog an der Kette, die zu den Glöckchen führte und bis hinunter auf die verschiedenen Ebenen der Laboratorien reichte.
    Es dauerte nicht lange, bis Karol die Tür öffnete. Als er Scylla erblickte, sagte er: »Was bei den Heiligen machst du hier draußen, Tochter?« Er war zu überrascht, um wütend zu sein, dass sie sein Gebot, die Mühle nicht zu verlassen, missachtet hatte.
    »Ich wurde auf der Plattform ausgesperrt.« Sie bibberte und klopfte den Schnee von der Kleidung. »Ich bin auf den Flügeln nach unten gerutscht.«
    »Du bist …
was?«
Karol trat hinaus und sah am Turm nach oben. »Bist du wahnsinnig geworden, Tochter?«
    »Wäre es dir lieber gewesen, ich wäre dort oben erfroren?«,gab sie wütend zurück und vergaß für einen Moment den Gehorsam gegenüber ihrem Vater.
    Erst jetzt schien ihm einzufallen, wie kalt es war. »Komm herein«, sagte er schnell und sah zur Treppe, die ins Arbeitszimmer hinaufführte. »Wie konnte das geschehen? Ist die Luke zugefallen und hat sich verkantet?«
    Scylla schüttelte den Kopf, die letzten beharrlichen Schneereste flogen davon. »Sie klemmt

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