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Kinder des Judas

Titel: Kinder des Judas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Heitz , Markus Heitz
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in die Koffer gepackt, die in der Kutsche lagen.«
    Scylla entsann sich. Sie hatte sich immer gefragt, weswegen sie auf der Reise auf dem unbequemen Kutschbock statt im weichen Polster hatte sitzen müssen. Jetzt wusste sie es: Es war schlicht die Angst ihres Vater vor ihrer Neugier gewesen. »Dann wusstest du schon, dass Mutter tot war?«
    »Ich war verzweifelt und habe es nicht übers Herz gebracht, dir am ersten Tag unseres Zusammentreffens die schreckliche Wahrheit zu sagen. Ich wusste nicht, wie ich es dir mitteilen sollte, und hoffte, dass mir auf dem Weg in dein neues Zuhause etwas einfällt.« Karol schluckte, wollte Tee trinken und bemerkte, dass sein Becher leer war. Frans schob seinen zu dem Freund hinüber. »Ich gönnte ihm keine Ruhe«, erzählte er und sah indas Antlitz der jungen Frau. »Er sollte niemals ins Grab gelangen, seine Seele durfte keine Erlösung finden.« Und auf Lateinisch fügte er hinzu: »Jetzt steht er in unseren Regalen, für alle Ewigkeit.« Er deutete auf den Dolch. »Ich weiß nicht, wieso das Blut immer noch daran haftet. Ich habe die Schneide und die Hülle mehrmals gewaschen, doch jedes Mal, wenn man sie zieht, ist sie voller Blut«, erklärte er, nun wieder auf Serbisch.
    »Ein Fluch«, sagte Frans sofort. »Es gibt Waffenschmiede, die ihre Dolche mit einem Zauber belegen. Mag sein, dass es bei diesem Stück ebenso ist.«
    Karol zuckte mit den Achseln. »Von mir aus soll die Seele dieses Janitscharen für seine Taten büßen.« Er sah Scylla an. »Wenn das Blut dich nicht stört, dann behalte die Waffe, Tochter. Sie ist höllisch scharf und durchtrennt ohne Schwierigkeiten einen Unterarmknochen.« Er lächelte, und es sah auf einmal mehr dämonisch aus. Sowohl Frans als auch Scylla wussten, dass er die Schneide am Janitscharen selbst ausprobiert hatte.
    Sie nahm die Waffe, wusch sie und betrachtete die eigentümliche Musterung, wie sie bei der Herstellung von Damaststahl entstand.
    Sie wusste, dass die Osmanen eine gänzlich andere Technik benutzen als die westlichen Europäer. Das Damaszieren brachte gleichermaßen harten und elastischen Stahl hervor, der im Gegensatz zu anderen Stählen nicht spröde wurde und bei hohem Druck nicht zersprang. Stäbe oder Drähte aus Stahl wurden dabei vom Schmied übereinandergelegt und in der Kohlenglut durch unendlich lange Arbeit miteinander verschweißt; aus den Trennlinien der zusammengeschmiedeten Stäbe entstand die Maserung.
    Scylla wollte diese Waffe benutzen. Ein eigenartiges Gefühl breitete sich vom Griff über ihre Hand aus. Das Fleisch erwärmte sich, als sei das Holz ebenfalls lebendig und von warmem Blut durchzogen.
    »Ich behalte sie, Vater«, murmelte sie, ohne die Augen von den dunklen Linien auf der Schneide zu wenden. Die Wellenmuster besaßen etwas Anziehendes, ähnlich wie die Wellen eines Teichs, die in gleichmäßigen Abständen gegen das Ufer schwappten. Man hatte Schwierigkeiten wegzusehen. »Ich behalte sie sehr gerne.« Scylla verstaute die Klinge in der Scheide und band sich die Waffe an den Gürtel.
     
    19. Dezember 2007
Deutschland, Sachsen, Leipzig, 22.09 Uhr
     
    Ununterbrochen schreibe ich an der Geschichte. Der Füller huscht derart schnell über das Papier, dass man meint, er flüchtet vor den Buchstaben, die er hinterlässt.
    Der Drang, alles über Scylla und ihre Entwicklung zu erzählen, ist stärker und stärker geworden – und je länger ich schreibe, umso mehr merke ich, wie ich in die Geschichte hineingezogen werde. Am Anfang versuchte ich noch, Distanz zu halten, doch es geht nicht.
    Ich bin mittendrin, meine Erinnerung wird besser und besser, ich rieche und schmecke Dinge, die lange zurückliegen, sogar der Kaffee gaukelt mir vor, sein modernes Aroma gegen osmanisches eingetauscht zu haben. Meine Gefühlswelt erlebt Talfahrten und Gipfelflüge, Gutes und Furchtbares greift über die Jahrhunderte hinweg nach mir.
    Mir wird bewusst, dass ich vieles von damals verdrängte – wie hätte ich auch mit jemandem darüber sprechen können? Selbst ein Priester, zu dem ich in den Beichtstuhl gestiegen wäre, hätte mich für verrückt erklärt oder geglaubt, dass ich ihn zum Narren halten will.
    Unweigerlich gelange ich im Verlauf der Geschichte an Punkte, an denen ich mich rückblickend frage, ob alles andersgekommen wäre, wenn ich dieses und jenes nicht getan hätte. Oder erst recht. Minutenlang starre ich gegen die Wand und sinniere: Wie viele Menschen würden dann noch leben? Wie viele wären nie

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