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Kinder des Judas

Titel: Kinder des Judas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Heitz , Markus Heitz
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geboren worden? Welches Leid hätte ich mir selbst erspart?
    Natürlich ist es ohne eine Zeitmaschine müßig, darüber nachzudenken. Ändern kann ich nichts mehr, Schadensbegrenzung ist meine Dauerbeschäftigung geworden.
    Sosehr mich das Schreiben anstrengt und beschäftigt, bin ich doch froh, es begonnen zu haben. Meine obsessive Arbeit wird nur durch gelegentliche Runden unterbrochen, bei denen ich nach Frau Ulmann und der Kleinfamilie Karkow schaue und erfahren will, was es Neues gibt. Glücklicherweise gibt es nichts Neues.
    Inzwischen schreibe ich sogar an den Sterbebetten und komme mir dabei schäbig vor. Ich vernachlässige diejenigen, die meinen Beistand dringend benötigen. Ich werde mich wieder mehr auf sie konzentrieren, auf sie und die Melodien. Wie dankbar wäre ich, wenn das Lied auch für mich verstummte.
    Aber das darf ich nicht denken, solange mein PDA eine Liste führt, auf der nicht alle Namen durchgestrichen sind; doch ich nähere mich meinem Ziel.
    Es ist dieser Zwiespalt, der mich mehr als ein Jahrhundert beschäftigt: untotes Leben – zwei Wörter, eine Konstellation, die ein Dilemma darstellt.
    Vielleicht bilde ich mir ein, nicht wirklich am Leben zu sein, weil ich nach dem Tod zurückgekehrt bin? Im Grunde sind auch manche Heiligen nach ihrem Ableben auferstanden, Jesus mit eingerechnet. Niemand käme auf den Gedanken, ihn als einen Vampir zu bezeichnen. Doch als Heilige sehe ich mich definitiv nicht.
    Rein medizinisch gibt es an meinem Status nichts zu bemängeln: Mein Herz schlägt wie bei jedem anderen Menschen, ichhabe etwas unter 37 Grad Körpertemperatur, Puls und Blutdruck sind perfekt. Wenn ein Arzt zu mir sagte, dass ich mindestens hundert Jahre alt würde, ich glaube, ich müsste vor Lachen zusammenbrechen.
    Dass ich lebe, zeigen mir die Schmerzen und das Adrenalin, die mir die Käfigkämpfe bescheren und die ich sehr genieße. Und doch sehne ich mich nach dem Ende meines Daseins, das viel zu lange währt, und ich beneide jeden Menschen, den ich beim Sterben begleite.
    Mit diesem Dilemma ringe ich seit Jahren still, aber dank Marek und meinem Schreiben trage ich den Kampf nun offener denn je aus.
    Vor mir liegt eine Zeitung, beinahe ganz verdeckt von den vielen Blättern, die ich noch immer nicht in eine Kladde gepackt, aber wenigstens durchnumeriert habe.
    Natürlich hat es Hendrik Lobitsch mit seinem spektakulären Tod in die Schlagzeilen geschafft – ich aber auch. Mein Name ist zwar nicht erwähnt, doch ich bin die perverse Unbekannte, die Retterin und Mörderin zugleich ist. Ich trug schon schlimmere Titel.
    Die Polizei, so heißt es in den Zeitungen und im Videotext des Lokalsenders, wird alles daransetzen, mich zu finden. Die Frage nach vier ähnlichen Morden in den letzten zwanzig Jahren blieb dagegen unbeantwortet. Niemand glaubt an einen Zusammenhang.
    Gut so.
    Ich habe so viele Jahre in relativer Ruhe und erlogenem Frieden mit mir selbst gelebt – einmal abgesehen von meiner undankbaren Aufgabe als Wächterin.
    Gedanken über die Vergangenheit habe ich meistens verdrängt, und nun, seit Scyllas Geschichte und Mareks Auftauchen, wird mir jeder Tag zur Qual. Es vergeht keine halbe Stunde, in der nicht Gesichter aus meinem alten Leben auftauchenund mich zurück in diese Jahre versetzen, in denen ich ganz andere Dinge getan habe.
    Umso mehr freut es mich, dass ich endlich wieder einen Kampf habe, wie Tanja mir auf dem AB berichtet hat. Das Ventil war zu lange geschlossen.
    Es wird immer schwieriger, einen Gegner für mich zu finden, denn es hat sich herumgesprochen, dass es noch niemandem gelungen ist, mich endgültig auf die Bretter zu schicken. Entsprechend unbeliebt werde ich bei den Buchmachern, und auch bei den Zuschauern spalten sich die Lager. Die einen haben mich ins Herz geschlossen, die zierliche kleine Kämpferin, die sich gegen Brocken wie Monsoon behauptet; die anderen hassen mich, weil ich erfolgreich bin. Verrückt. Sie kennen mich nicht einmal, und dennoch fühlen sie sich von mir provoziert, schicken E-Mails an den Provider der Sendung, in denen sie mir Bezeichnungen verpassen, die ich nicht einmal in einem Schimpfwortlexikon finde.
    Die Natur des Menschen und der Neid, das sind unerschöpfliche Themen, die im Alltag ebenso eine Rolle spielen wie in den Disputen der Philosophen – ohne dass es irgendwie besser geworden wäre. Eine Krankheit zu kennen bedeutet eben nicht, im Stande zu sein, sie zu heilen.
    Ich bemerke, dass ich mit dem Schreiben

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