Kinder des Monsuns
Im Grunde weiß sie, vermute ich, dass der Krieg mit einem Patt endete und sie in einem unerträglichen Land lebt.
Ihre Mutter war ebenfalls Tänzerin gewesen und hatte in osteuropäischen Ländern gastiert, in Russland und der Mongolei. Sie war immer mit der neuesten Popmusik zurückgekehrt, was immer sie heimlich kaufen konnte, doch seit ihrem Ruhestand vor über einem Jahrzehnt hatte sie ihrer Tochter keine Musikkassetten mehr mitbringen können. Für Frau Sim waren die Reisen ihrer Mutter der einzige Kontakt zur Außenwelt gewesen, und so beschränkt dieser auch gewesen sein mochte, weiß sie durch sie doch mehr als ihre Landsleute, vielleicht genug, um den Irrsinn des Landes zu begreifen, in dem sie bedauerlicherweise lebt.
Wir legen unsere politische Diskussion bei, und ich frage sie, welche Musik ihr gefällt. Das letzte Mitbringsel ihrer Mutter, erzählt sie, war eine Best-of-Kassette von Michael Jackson. Ich scherze, dass diese Musik schon ein bisschen aus der Mode ist.
»Bringen Sie mir eine Musikkassette mit, wenn Sie zurückkommen?«, fragt sie.
»Wenn Sie mich zurückkommen lassen, bringe ich eine Musik-CD mit.«
|232| »Eine CD, nein«, wendet sie ein. »Eine Kassette. Ich habe nämlich keinen…«
»Gut, dann eine Kassette.«
*
Der Ausgang des Zweiten Weltkriegs setzte den Großmachtsträumen Japans ein Ende, das seine Truppen auch aus Korea zurückziehen musste. Die Russen nutzten das Vakuum und besetzten den Norden, die Amerikaner beeilten sich, ihren Einfluss auf den Süden zu festigen. Die beiden siegreichen Großmächte beschlossen, dass Territorium aufzuteilen, und setzten den 38. Breitengrad als Grenze fest. In Asien wurde, genau wie in Europa, eine Mauer errichtet, die zwei Systeme trennte. Der Norden versuchte, die Wiedervereinigung zu forcieren, und fiel 1950 in den Süden ein. Der erste Teil des Kriegs war ein Spaziergang für das kommunistische Korea, das kurz davor stand, die ganze Halbinsel zu beherrschen. Die zweite Phase des Krieges, die mit der historischen Landung von General McArthurs Truppen in Incheon begann, war ein militärischer Spaziergang, bei dem der Süden ebenfalls das gesamte Territorium hätte einnehmen können. McAthur träumte von einem solchen Sieg und wäre gerne bis an die Grenze Chinas vorgerückt, dessen Führer Mao Abertausende seiner Soldaten opferte, um Nordkorea zu retten.
Am Ende hatten alle Gefallenen und die Opfer beider Seiten nur dem Zweck gedient, an den Ausgangspunkt zurückzukehren: den 38. Breitengrad. Ein Patt, würde ich sagen, ein »unbestreitbarer Sieg des Nordens« war es hingegen für Frau Sim. Wohl eher eine Niederlage für beide. Das Resultat war die dauerhafte Trennung von Millionen von Familien, die sich bis heute fortsetzt. Der Norden, Opfer seiner Ideologie und derer, die sie auf Gedeih und Verderb durchsetzen wollten, hielt die Uhr des Fortschritts an und behauptete sich durch Repression.
Nach Überwindung seiner Militärdiktatur schrieb sich der |233| Süden den Fortschritt auf seine Fahne und konzentrierte seine Kräfte darauf, ein modernes und demokratisches Land zu schaffen, wo niemand in einen Gulag gesteckt wird, nur weil er seine Meinung äußert. Mit der Zeit und einer derart ungleichen Entwicklung wandelte sich der 38. Breitengrad von einer binnenkoreanischen Systemscheide zu einer Grenze zwischen zwei Welten: dem Reich der Dunkelheit und der Welt des Lichts.
Könnte man von hier aus auf die andere Seite der Grenze weiterfahren, es wäre ein unglaubliches Erlebnis. Ein Nordkoreaner könnte auf nur 50 Metern ein ganzes Jahrhundert vorankommen; ein Südkoreaner könnte dieselbe Distanz zurücklegen und eine Zeitreise zurück ins Jahr 91 unternehmen.
So leicht ist es freilich nicht, dem größten Tyrannen unter den Tyrannen unserer Zeit zu entfliehen, den Soldaten der repressivsten Armee zu entkommen und das verschlossenste aller Länder hinter sich zu lassen. Die Gulags des Regimes sind angefüllt mit Nordkoreanern, die aus dem Paradies der beiden Kims türmen wollten, um ans Licht zu gelangen. Die Flucht nach Süden verbietet sich von selbst, die Grenze hier ist unüberwindlich. Im Westen liegt das Gelbe Meer, im Osten das Japanische, beide lassen sich ohne ein halbwegs seetüchtiges Boot nicht befahren. Die einzige Fluchtmöglichkeit bietet folglich der Grenzübertritt nach China im Norden, um von dort aus nach Südkorea zu gelangen.
Der Verlauf des Tumen-Flusses bildet beinahe perfekt die Grenze zwischen Nordkorea
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