Kinder Des Nebels
Schatten erschien vor ihr in der Nacht, dessen oberes Ende von Lichtpunkten durchsetzt war.
Die Stadtmauer,
dachte sie verblüfft.
Jetzt schon? Ich habe diese Reise doppelt so schnell wie ein Reiter hinter mich gebracht!
Das bedeutete allerdings, dass sie Kelsiers Spur verloren hatte. Enttäuscht benutzte sie den Barren, den sie mitgenommen hatte, zum Sprung auf die Zinnen. Sobald sie auf dem feuchten Stein gelandet war, griff sie mit ihrer inneren Kraft hinter sich und zog den Barren durch die Luft, bis er auf ihrer Handfläche landete. Dann näherte sie sich der gegenüberliegenden Seite des Wehrgangs, sprang auf eine Zinne und überblickte von dort die Stadt.
Was jetzt?,
fragte sie sich verärgert.
Zurück nach Fellise? Oder soll ich zu Keulers Laden gehen und nachsehen, ob Kelsier dort steckt?
Unsicher hockte sie eine Weile auf dem Stein, stürzte sich dann von der Mauer und huschte über die Dächer. Ziellos irrte sie umher, drückte sich von Fensterriegeln und anderen kleinen Metallstücken ab und setzte auch ihren Bronzebarren ein - den sie immer wieder zurück in ihre Hand zog -, wenn längere Sprünge notwendig waren. Erst als sie ihr Ziel erreicht hatte, erkannte sie, dass sie sich unbewusst darauf zubewegt hatte.
Die Festung Wager ragte vor ihr in der Finsternis auf. Die Kalklichter waren gelöscht, und nur ein paar geisterhafte Fackeln brannten in der Nähe der Wachtposten.
Vin hockte auf dem Dach eines Hauses und versuchte herauszufinden, was sie zu dieser riesigen Festung geführt hatte. Der kalte Wind fuhr ihr durch Haare und Mantel, und sie glaubte ein paar winzige Regentropfen auf der Haut zu spüren. Lange saß sie da, bis ihre Zehen kalt wurden.
Dann bemerkte sie rechts von sich eine Bewegung. Sofort kauerte sie sich zusammen und fachte ihr Zinn an.
Kelsier saß auf dem Dach eines Nachbarhauses und wurde von dem schwachen Licht seiner Umgebung nur unvollkommen erhellt. Er schien sie noch nicht bemerkt zu haben. Auch er beobachtete die Festung. Sie konnte sein Gesicht nicht erkennen und daher auch nicht seine Empfindungen lesen.
Vin sah ihn misstrauisch an. Er hatte ihr Zusammentreffen mit Elant als unwichtig abgetan, aber vielleicht machte es ihm doch mehr Sorgen, als er zugegeben hatte. Plötzlich durchfuhr sie ein Stachel der Angst.
Ist er vielleicht hier, um Elant umzubringen
? Die Ermordung eines Mitglieds des Hochadels würde sicherlich große Spannungen zwischen den Großen Häusern auslösen.
Vin wartete besorgt. Schließlich stand Kelsier auf, stieß sich vom Dach ab und schoss in die Luft.
Vin ließ ihren Bronzebarren fallen - er würde sie verraten - und hastete ihm nach. Ihr Eisen zeigte ihr schwankende blaue Linien in der Ferne. Eilig sprang sie über die Straße und drückte sich dabei von einem eisernen Kanaldeckel ab. Sie war fest entschlossen.
Er bewegte sich auf das Stadtzentrum zu. Vin runzelte die Stirn und versuchte sein Ziel zu erraten. Die Festung Erikeller lag in dieser Richtung und war bekannt als Waffenlieferant. Vielleicht plante Kelsier, die Lieferungen dieses Hauses zu unterbinden, damit das Haus Renoux größeren Einfluss beim örtlichen Adel erhielt.
Vin landete auf einem Dach und beobachtete, wie Kelsier in die Nacht hineinflog.
Er ist wieder sehr schnell unterwegs. Ich ...
Eine Hand legte sich ihr auf die Schulter.
Vin schrie auf, sprang zurück und verbrannte Weißblech.
Kelsier betrachtete sie mit erhobener Braue. »Du solltest schon längst im Bett sein, junge Dame.«
Vin warf einen raschen Blick zur Seite - auf die blaue Metalllinie. »Aber ...«
»Meine Geldbörse«, erklärte Kelsier grinsend. »Ein guter Dieb kann kluge Kniffe genauso leicht stehlen wie Kastlinge. Seit du mir letzte Woche gefolgt bist, habe ich mir angewöhnt, vorsichtiger zu sein. Zuerst hatte ich geglaubt, du seiest ein Nebelgeborener aus dem Hause Wager.«
»Haben sie einen?«
»Dessen bin ich mir sicher«, sagte Kelsier. »Die meisten Großen Häuser haben einen - aber dein Freund Elant ist keiner. Er ist nicht einmal ein Nebeling.«
»Woher weißt du das? Er könnte seine Fähigkeit doch geheim halten.«
Kelsier schüttelte den Kopf. »Vor ein paar Jahren wäre einer beinahe bei einem Überfall gestorben. Wenn es je eine Gelegenheit für ihn gab, seine Kräfte zu zeigen, dann damals.«
Vin nickte. Sie hielt den Blick immer noch gesenkt, wollte Kelsier nicht ansehen.
Er seufzte, setzte sich rittlings auf den Dachsattel und ließ die Beine rechts und links
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