Kinder Des Nebels
ich will mit dir zusammenarbeiten, und ich bin dein Bruder.
Ihr Rücken schmerzte noch immer, denn Camon hatte sie gestern ausgepeitscht. Das Blut hatte ihr Hemd ruiniert, und sie konnte sich kein neues leisten. Camon hielt ihren Lohn zurück und tilgte damit die Schulden, die Reen hinterlassen hatte.
Aber ich bin stark,
dachte sie.
Darin lag eine gewisse Ironie. Die Schläge schmerzten kaum noch, denn Reens regelmäßige Misshandlungen hatten Vin immer widerstandsfähiger gemacht, während er sie gleichzeitig gelehrt hatte, bemitleidenswert und gebrochen auszusehen. Die Schläge erreichten inzwischen nur noch das Gegenteil von dem, was sie bewirken sollten. Prellungen und Wunden verheilten, doch jeder neue Peitschenschlag machte Vin härter. Stärker.
Camon stand auf, griff in seine Westentasche und zog eine goldene Taschenuhr heraus. Er nickte einem seiner Kumpane zu, warf einen Blick durch den Raum und suchte nach ... ihr.
Sein Blick heftete sich an Vin. »Es ist Zeit.«
Vin runzelte die Stirn.
Zeit wofür?
*
Die Finanzabteilung des Ministeriums war ein beeindruckendes Bauwerk - doch schließlich pflegte alles, was mit dem Stahlministerium in Zusammenhang stand, beeindruckend zu sein.
Das hohe und massige Gebäude trug ein riesiges Rosettenfenster in der Fassade; von außen wirkte das Glas dunkel. Zwei große Flaggen hingen neben dem Fenster; ihr rußfleckiges Leinen verkündete den Lobpreis des Obersten Herrschers.
Camon betrachtete das Gebäude mit kritischem Blick. Vin spürte seine Anspannung. Das Amt für Finanzwesen war nicht gerade das bedrohlichste Gebäude des Ministeriums. Das Amt für Inquisition oder auch das Amt für Orthodoxie hatten einen weitaus unheilvolleren Ruf. Dennoch, wenn man freiwillig ein Amt des Ministeriums betrat ... wenn man sich in die Gewalt der Obligatoren begab ... nun, so etwas tat man nur nach reiflicher Überlegung.
Camon holte tief Luft und ging voran. Sein Duellstab klopfte dabei gegen das Steinpflaster. Er trug seine reiche Adelskleidung und wurde von einem halben Dutzend seiner Gefährten - einschließlich Vin - begleitet, die als seine »Diener« auftraten.
Vin folgte Camon die Treppe hinauf und wartete, während ein Mitglied der Mannschaft die Tür für seinen »Meister« aufriss. Von den sechs Anwesenden schien nur Vin nichts von Camons Plan zu wissen. Verdächtigerweise war Theron - Camons angeblicher Partner in dieser Ministeriumsscharade - nirgendwo zu sehen.
Vin betrat das Amtsgebäude. Zitterndes rotes, von blauen Streifen durchzogenes Licht fiel durch das Rosettenfenster. Ein einzelner Obligator mit einer Tätowierung um die Augen, die ihn als mittelmäßig wichtig einstufte, saß hinter einem Schreibtisch am Ende der weiten Eingangshalle.
Camon näherte sich ihm; dabei klopfte sein Stab auf den Teppich. »Ich bin Graf Jedue«, sagte er.
Was hast du vor, Camon?,
dachte Vin.
Theron gegenüber hast du darauf bestanden, Prälan Härr nicht in dessen Büro zu treffen. Aber jetzt bist du hier.
Der Obligator nickte, trug etwas in sein Geschäftsbuch ein und machte gleichzeitig eine Handbewegung zur Seite.
»Ihr könnt einen Diener ins Vorzimmer mitnehmen. Der Rest muss hier warten.«
Camons verächtliches Schnauben deutete an, was er von dieser Beschränkung hielt. Der Obligator sah nicht einmal von seinem Buch auf. Camon zögerte kurz, und Vin wusste nicht, ob er wirklich wütend war oder nur den überheblichen Adligen spielte. Schließlich deutete er mit dem Finger auf Vin.
»Komm«, sagte er, drehte sich um und watschelte in Richtung der Tür, auf die der Obligator gezeigt hatte.
Der Raum dahinter war plüschig und verschwenderisch ausgestattet, und mehrere Adlige warteten bereits hier. Camon suchte sich einen Sessel aus und ließ sich in ihm nieder, dann deutete er auf einen Tisch, auf dem Wein und Kuchen mit rotem Zuckerguss standen. Gehorsam holte Vin ihm ein Glas Wein und einen Teller mit Kuchen und achtete nicht auf ihren eigenen Hunger.
Camon machte sich mit großem Appetit über den Kuchen her und schmatzte dabei leise.
Er ist nervös. Nervöser als je zuvor.
»Sobald wir drinnen sind, sagst du nichts mehr«, brummte Camon zwischen zwei Bissen. »Du verrätst Theron«, flüsterte Vin. Camon nickte.
»Aber warum? Wieso?« Therons Plan war sehr schwierig in der Ausführung, aber einfach im Konzept. Jedes Jahr sandte das Ministerium seine neuen Obligatoren von einem Ausbildungslager im Norden nach Luthadel, wo sie ihre letzten Unterweisungen
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