Kinder Des Nebels
manche Skaa-Geschichte über angebliche Grausamkeiten übertrieben war. Doch wenn sie so etwas wie die Hinrichtung des armen Jungen oder diese Skaa-Kinder sah, zweifelte sie wieder. Wieso sah der Adel all das nicht? Wieso verstand er es nicht?
Vin seufzte und wandte den Blick von den Skaa ab, als die Kutsche schließlich auf das Haus Renoux zurollte. Sie bemerkte eine große Menschengruppe im inneren Hof. Sofort packte sie eine frische Metall-Phiole, denn sie befürchtete, der Oberste Herrscher habe Soldaten geschickt, um Graf Renoux zu verhaften. Doch rasch begriff sie, dass die Menge nicht aus Soldaten bestand, sondern aus Skaa in einfacher Arbeitskleidung.
Die Kutsche rollte durch das Tor, und Vins Verwirrung wurde noch stärker. Kisten und Säcke lagen aufgestapelt zwischen den Skaa; viele waren durch den vor kurzem erfolgten Ascheregen schwarz gesprenkelt. Die Arbeiter hasteten umher und entluden etliche Karren. Die Kutsche kam vor dem Herrenhaus zum Stehen, und Vin wartete nicht, bis Sazed ihr die Tür aufhielt. Sie hüpfte aus dem Wagen, raffte ihr Kleid und stapfte hinüber zu Kelsier und Renoux, die das Geschehen überwachten.
»Ihr bringt die Güter
von hier aus
zu den Höhlen?«, fragte sie leise, als sie die beiden Männer erreicht hatte.
»Mach einen Knicks vor mir, mein Kind«, sagte Graf Renoux. »Wahre den Schein, solange man uns sehen kann.«
Vin gehorchte und verbarg ihren Zorn.
»Natürlich tun wir das, Vin«, erklärte Kelsier. »Renoux muss etwas mit den Waffen und Vorräten tun, die er gesammelt hat. Die Leute werden misstrauisch, wenn sie nicht mitbekommen, wie er sie versendet.«
Renoux nickte. »Offiziell schicken wir all das mit Kanalbooten zu meiner Plantage im Westen. Die Boote werden aber bei den Höhlen der Rebellen anhalten und Vorräte sowie viele der Männer ausladen. Dann werden die Boote mit ein paar Leuten weiterfahren, um den Schein zu wahren.«
»Unsere Soldaten wissen nicht einmal, dass Renoux zu uns gehört«, sagte Kelsier lächelnd. »Sie glauben, er sei ein Adliger, den ich betrogen habe. Das ist für uns eine gute Gelegenheit, die Armee zu inspizieren. Nach ungefähr einer Woche in den Höhlen werden wir auf einer von Renoux' Barken, die in östlicher Richtung segeln, nach Luthadel zurückkehren.«
Vin schwieg zunächst. »Wir?«, fragte sie schließlich und stellte sich viele Wochen auf einer solchen Barke vor, mit immer derselben Aussicht auf eine langweilige Landschaft, Tag für Tag. Das wäre noch schlimmer, als zwischen Luthadel und Fellise hin und her zu fahren.
Kelsier hob eine Braue. »Du klingst besorgt. Anscheinend gefallen dir die Bälle und Festlichkeiten inzwischen.«
Vin errötete. »Ich bin nur der Meinung, dass ich hierhergehöre. Ich meine, nach alldem, was ich durch meine Krankheit verpasst habe ...«
Kelsier hielt die Hand hoch und konnte sich ein Kichern nicht verkneifen. »Du bleibst hier. Yeden und ich machen uns auf die Reise. Ich muss die Truppen inspizieren, und Yeden wird von nun an über die Armee befehlen, damit Hamm nach Luthadel zurückkehren kann. Außerdem nehmen wir meinen Bruder mit und bringen ihn an seinen Einsatzort zu den Lehrlingen des Ministeriums in Vennias. Es ist gut, dass du wieder da bist. Ich möchte, dass du vor unserer Abreise ein wenig Zeit mit ihm verbringst.«
Vin runzelte die Stirn. »Mit Marsch?«
Kelsier nickte. »Er ist ein Nebeling-Sucher. Bronze ist eines der weniger nützlichen Metalle, vor allem für einen richtigen Nebelgeborenen, aber Marsch behauptet, er kann uns ein paar Kniffe zeigen. Das ist vermutlich deine letzte Gelegenheit, mit ihm zu üben.«
Vin warf einen Blick auf die sich formierende Karawane. »Wo ist er denn?« Kelsier zog die Stirn kraus. »Er hat sich verspätet.«
Das scheint in der Familie zu liegen.
»Er wird bald hier sein, mein Kind«, sagte Graf Renoux. »Vielleicht möchtest du ins Haus gehen und eine Erfrischung zu dir nehmen?«
Ich hatte heute schon eine Menge Erfrischungen,
dachte sie, hielt aber ihre Verärgerung im Zaum. Statt sich ins Haus zu begeben, durchquerte sie den Innenhof, betrachtete die Vorräte und die Arbeiter, die sie auf Karren luden, damit sie zu den örtlichen Kaianlagen gebracht werden konnten. Das Grundstück war sehr gepflegt, und auch wenn die Asche noch nicht beiseitegeräumt war, musste Vin wegen des kurzgeschnittenen Grases ihr Kleid kaum raffen.
Außerdem war es überraschend einfach, die Asche aus dem Stoff zu waschen. Mithilfe einer teuren
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