Kinder Des Nebels
Vin. »Er ist spät in der Nacht hergekommen und bisher noch nicht aufgestanden.«
Hamm grunzte, nahm sich einen Lorbeerwickel und biss hinein. »Und Dox?«
»In seinem Zimmer im zweiten Stock«, antwortete Vin. »Er ist schon früh aufgestanden, hat sich hier unten etwas zu essen geholt und ist wieder hochgegangen.« Sie verschwieg, dass sie durch sein Schlüsselloch gespäht und gesehen hatte, wie er an seinem Schreibtisch saß und ein paar Schriftstücke verfasste.
Hamm hob eine Braue. »Du weißt wohl immer, wer wo ist?«
»Ja.«
Hamm schwieg eine Weile, dann kicherte er. »Du bist ein komisches Mädchen, Vin.« Er hob sein Gepäck auf, als der Lehrling zurückkehrte, und die beiden gingen die Treppe hinauf. Vin stand da und lauschte auf ihre Schritte. Sie verstummten etwa in der Mitte des ersten Korridors, vermutlich nur wenige Türen von ihrem eigenen Zimmer entfernt.
Der Duft der gekochten Gerste war verlockend. Vin warf einen Blick in Richtung Küche. Hamm war einfach hineingegangen und hatte sich etwas zu essen geholt. Durfte sie das auch?
Vin versuchte, eine selbstsichere Miene zu machen, und schlenderte in die Küche. Auf einem Teller lag ein ganzer Stapel von Lorbeerwickeln, die vermutlich zu den Lehrlingen gebracht werden sollten. Vin nahm zwei an sich. Keine der Frauen wandte etwas ein; einige nickten ihr sogar respektvoll zu.
Ich bin jetzt eine wichtige Person,
dachte sie mit einem gewissen Unbehagen. Wussten sie, dass Vin eine ... Nebelgeborene war? Oder wurde sie einfach nur mit Hochachtung behandelt, weil sie ein Gast war?
Schließlich nahm Vin einen dritten Lorbeerwickel und flüchtete damit auf ihr Zimmer. Das war vermutlich mehr Nahrung, als sie essen konnte, aber sie hatte vor, die Gerste herauszukratzen und sich die Brotfladen für später aufzuheben; vielleicht würde sie diese noch brauchen.
*
Jemand klopfte an ihrer Tür. Vin reagierte darauf, indem sie die Tür mit einer vorsichtigen Bewegung aufzog. Draußen stand ein junger Mann. Es war derjenige, der in der vergangenen Nacht zusammen mit Keuler in Camons Unterschlupf gewesen war.
Er war dürr, groß und schlaksig und trug graue Kleidung. Vin schätzte sein Alter auf etwa vierzehn Jahre, auch wenn er aufgrund seiner Größe älter wirkte. Aus irgendeinem Grund schien er nervös zu sein.
»Ja?«, fragte Vin.
»Äh ...«
Vin runzelte die Stirn. »Was ist?«
»Wirst gwünscht«, sagte er mit starkem östlichem Akzent. »Oben, da, wo's losgeht. Beim Meista im zwotn Stock. Äh, muss jetz gehn.« Der Junge errötete, drehte sich um und eilte zur Treppe, die er hastig hochstolperte.
Vin stand verblüfft in der Tür ihres Zimmers.
Sollte das irgendeinen Sinn ergeben?,
fragte sie sich.
Sie spähte den Korridor entlang. Anscheinend hatte der Junge erwartet, dass sie ihm folgte. Nach allen Richtungen spähend, stieg sie die Treppe hoch.
Aus einer offenen Tür am Ende des Korridors drangen Stimmen. Vin näherte sich ihnen vorsichtig, warf einen Blick in das Zimmer und fand einen elegant eingerichteten Raum vor, in dem ein feiner Teppich lag und mehrere bequem aussehende Sessel standen. An einer Seite des Zimmers brannte ein Feuer im Kamin, und die Sessel waren so angeordnet, dass sie alle auf eine große Kohletafel blickten, die auf einer Staffelei stand.
Kelsier stand mit dem Ellbogen gegen den geziegelten Kamin gelehnt und hatte einen Weinbecher in der Hand. Als Vin sich etwas weiter vorbeugte, konnte sie erkennen, dass er mit Weher sprach. Der Besänftiger war gegen Mittag eingetroffen und hatte die Hälfte von Keulers Lehrlingen zum Ausladen seiner Besitztümer in Anspruch genommen. Vin hatte von ihrem Fenster aus zugesehen, wie die Lehrlinge das Gepäck - das als Truhen mit Holzspänen getarnt war - hinauf in Wehers Quartier getragen hatten. Weher selbst hatte sich nicht die Mühe gemacht, ihnen zu helfen.
Auch Hamm und Docksohn waren da, und Keuler ließ sich gerade in dem großen, dick gepolsterten Sessel nieder, der am weitesten von Weher entfernt stand. Der Junge, der Vin geholt hatte, saß auf einem Schemel neben Keuler und versuchte offensichtlich angestrengt, nicht in Vins Richtung zu sehen. Auch Yeden hatte sich in einem Sessel niedergelassen; wie schon zuvor trug er die gewöhnliche Arbeitskleidung der Skaa. Er hielt den Rücken von der Lehne fern, als missbillige er die reichhaltige Polsterung. Sein Gesicht war rußgeschwärzt, so wie es Vin bei einem Skaa-Arbeiter erwartete.
Zwei der Sessel waren leer. Kelsier
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