Kinder Des Nebels
um ein wenig Privatsphäre kämpfen müssen. Nun, da sie diese so leichthin erhalten hatte, schien es ihr die Jahre zu entwerten, in denen sie jeden seltenen Augenblick der Einsamkeit genossen hatte.
Sie schlüpfte aus dem Bett und machte sich nicht die Mühe, die Läden zu öffnen. Das Sonnenlicht fiel schwach herein, was bedeutete, dass es noch früh am Morgen war, doch draußen auf dem Korridor hörte sie bereits Schritte. Sie schlich zur Tür, zog sie einen Spaltweit auf und spähte hinaus.
Nachdem Kelsier gestern Abend gegangen war, hatte Docksohn Vin zu Keulers Laden geführt. Wegen der späten Stunde hatte Keuler die beiden sofort in ihren Zimmern untergebracht. Doch Vin war nicht gleich zu Bett gegangen. Sie hatte gewartet, bis alle eingeschlafen waren, und sich dann hinausgestohlen, um ihre Umgebung zu untersuchen.
Das Haus ähnelte eher einer Herberge als einem Geschäftsgebäude. Zwar gab es unten einen Laden und dahinter eine Werkstatt, aber im ersten Stock lagen etliche Gästezimmer an langen Korridoren. Es gab auch noch einen zweiten Stock, wo die Türen weiter auseinanderlagen, was darauf schließen ließ, dass die Zimmer dahinter größer waren. Vin hatte nicht nach Falltüren oder falschen Wänden gesucht - der Lärm, den sie dabei verursacht hätte, wäre sicherlich nicht unbemerkt geblieben -, doch die Erfahrung sagte ihr, dass dies kein richtiger Unterschlupf war, wenn er nicht wenigstens einen Geheimkeller und ein paar kleine Verstecke besaß.
Insgesamt war sie tief beeindruckt. Die Zimmermannsausrüstung und die halbfertigen Werkstücke unten deuteten auf eine angesehene Fassade hin. Dieser Unterschlupf war sicher, gut bestückt und gepflegt. Als Vin durch den Türspalt lugte, erkannte sie eine Gruppe von etwa sechs erschöpften jungen Männern, die aus dem Korridor schräg gegenüber kamen. Sie trugen einfache Kleidung und gingen zur Treppe, die hinunter in den Werkraum führte.
Zimmermannslehrlinge,
dachte Vin.
Das ist Keulers Fassade - er ist ein Skaa-Handwerker.
Die meisten Skaa führten ein mühsames, geschundenes Leben auf den Plantagen, und selbst diejenigen, die in der Stadt lebten, wurden im Allgemeinen zu knechtischen Diensten gezwungen. Nur wenigen begabten war es erlaubt, ein Handwerk auszuüben. Natürlich waren sie immer noch Skaa; sie wurden schlecht bezahlt und waren den Launen des Adels unterworfen. Dennoch besaßen sie ein Maß an Freiheit, um das die meisten anderen Skaa sie beneideten.
Vermutlich war Keuler ein Tischlermeister. Was führte einen solchen Mann - der nach Skaa-Maßstäben ein wunderbares Leben führte - dazu, sich den Gefahren des Untergrunds auszusetzen?
Er ist ein Nebeling,
dachte Vin.
Kelsier und Docksohn haben ihn einen »Raucher« genannt.
Vermutlich musste sie selbst herausfinden, was das bedeutete. Ihre Erfahrung lehrte sie, dass ein mächtiger Mann wie Kelsier sein Wissen so lange wie möglich vor ihr geheim halten und ihr nur gelegentlich Schnipsel davon abgeben würde. Es waren seine Kenntnisse, die Vin an ihn banden, und es wäre unklug von ihm, zu schnell zu viel davon mit ihr zu teilen.
Draußen ertönten neue Schritte, und Vin spähte weiterhin durch den Spalt.
»Du solltest dich fertig machen, Vin«, sagte Docksohn, als er an ihrer Tür vorbeiging. Er trug Hemd und Hose des Adels und wirkte bereits wach und aufmerksam. Er blieb stehen und fuhr fort: »In dem Zimmer am Ende des Korridors wartet ein frisches Bad auf dich, und ich habe Keuler dazu gebracht, dass er dir Kleidung zum Wechseln besorgt hat. Sie sollte dir genügen, bis wir etwas Passenderes für dich gefunden haben. Lass dir Zeit mit dem Bad. Kell plant eine Zusammenkunft für heute Nachmittag, aber wir können damit erst beginnen, wenn Weher und Hamm wieder da sind.«
Docksohn lächelte und beäugte sie kurz durch den Türspalt, dann setzte er seinen Weg den Korridor entlang fort. Vin errötete, weil er sie beim Spähen erwischt hatte.
Diese Männer sind sehr wachsam. Das darf ich niemals vergessen.
Im Korridor wurde es still. Sie schlüpfte aus ihrem Zimmer und schlich zu dem Raum, den Docksohn ihr bezeichnet hatte. Sie war überrascht, dass dort tatsächlich ein warmes Bad auf sie wartete. Sie runzelte die Stirn und betrachtete das gekachelte Zimmer sowie den Metallzuber eingehend. Das Wasser schien parfümiert zu sein, wie es bei den adligen Damen üblich war.
Diese Männer sind eher Adlige als Skaa,
dachte Vin. Sie war nicht sicher, was sie davon halten sollte. Doch
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