Kinder Des Nebels
das Küchenessen etwa genauso schmackhaft wie Aschewasser.
Glücklicherweise war sie nicht zum Essen hergekommen. Sie reihte sich in die Schlange vor der Tür ein und wartete still, während die Arbeiter ihre Metallmarken vorzeigten. Als sie an der Reihe war, zog sie eine kleine hölzerne Scheibe hervor und gab sie dem Skaa-Mann an der Tür. Er nahm die Scheibe mit einer geschmeidigen Bewegung entgegen und nickte fast unmerklich nach rechts.
Vin ging in die angegebene Richtung und durchquerte den schmutzigen Speisesaal, dessen Boden fleckig von der unter den Schuhen hereingetragenen Asche war. Als sie sich der hinteren Wand näherte, erkannte sie, dass sich in der Ecke des Saals eine grob gezimmerte Holztür befand. Neben ihr saß ein Mann, der knapp nickte, als er Vin bemerkte, und die Tür für sie aufdrückte. Rasch huschte Vin in den kleinen Raum dahinter.
»Vin, meine Liebe!«, rief Weher, der an einem Tisch im mittleren Bereich des Raumes saß. »Willkommen! Wie war es in Fellise?«
Vin zuckte die Achseln und nahm an dem Tisch Platz. »Ach, beinahe hätte ich vergessen, was für eine beeindruckende Gesprächspartnerin du bist«, meinte Weher. »Wein?« Vin schüttelte den Kopf.
»Also, ich hätte gern einen.« Weher trug einen seiner extravaganten Anzüge, und der Duellstab ruhte quer auf seinem Schoß. Der Raum wurde nur von einer einzigen Laterne erhellt, doch es war deutlich zu sehen, dass er viel sauberer und heller als der Saal draußen war. Von den vier anderen Männern im Raum kannte Vin nur einen: einen Lehrling aus Keulers Laden. Die beiden neben der Tür waren offenbar Wächter. Und der letzte Mann schien ein gewöhnlicher Skaa-Arbeiter zu sein - samt der dazugehörigen geschwärzten Jacke und dem aschfleckigen Gesicht. Doch seine selbstbewusste Haltung legte nahe, dass er ein Mitglied des Untergrunds war. Vermutlich handelte es sich bei ihm um einen von Yedens Rebellen.
Weher hielt den Becher hoch und tippte mit dem Fingernagel dagegen. Der Rebell beobachtete ihn mit düsterer Miene.
»Jetzt fragst du dich, ob ich gerade Allomantie bei dir anwende«, sagte Weher zu dem Mann. »Vielleicht tue ich das, vielleicht auch nicht. Spielt das überhaupt eine Rolle? Ich bin auf Einladung deines Anführers hier, und er hat dir befohlen, dafür zu sorgen, dass mir alle Annehmlichkeiten zur Verfügung stehen. Und ich versichere dir, dass ein Becher Wein
unerlässlich
für mein Wohlergehen ist.«
Der Skaa wartete eine Weile, dann nahm er Weher den Becher aus den Händen und brummte etwas über sinnlose Kosten und verschwendete Energien.
Weher hob eine Braue und wandte sich an Vin. Er schien recht zufrieden mit sich zu sein.
»Hast du gegen ihn gedrückt?«
Weher schüttelte den Kopf. »Das wäre bloß eine Verschwendung von Messing gewesen. Hat Kelsier dir gesagt, warum du heute herkommen sollst?«
»Er hat mir aufgetragen, dich zu beobachten«, sagte Vin, die sich darüber ärgerte, dass sie einfach zu Weher abgeschoben worden war. »Er hat gesagt, er habe nicht die Zeit, mich in allen Metallen zu unterrichten.«
»Dann sollten wir sofort beginnen«, sagte Weher. »Zuerst musst du begreifen, dass hinter dem Besänftigen mehr als nur Allomantie steckt. Es ist die edle und zarte Kunst der Beeinflussung.«
»Wirklich sehr edel«, sagte Vin.
»Ah, du klingst wie eine von
denen.«
»Von wem?«
»Von all den anderen«, sagte Weher. »Hast du gesehen, wie dieser hohe Skaa-Herr mich behandelt hat? Die Leute mögen uns nicht, meine Liebe. Die Vorstellung, dass jemand mit ihren Gefühlen spielt und sie auf ›mystische‹ Weise dazu bringt, bestimmte Dinge zu tun, gefällt ihnen gar nicht. Dabei ist ihnen nicht bewusst - aber dir
muss
es bewusst sein -, dass alle Menschen einander zu beeinflussen versuchen. Diese Beeinflussungen bilden sogar den Kern unseres Zusammenlebens.«
Er lehnte sich zurück, hob den Duellstab und vollführte mit ihm unbestimmte Gesten, während er weiterredete. »Denk einmal darüber nach. Was tut ein Mann, wenn er die Zuneigung einer jungen Dame zu erringen wünscht? Er versucht sie so zu beeinflussen, dass sie ihm wohlgesonnen ist. Was passiert, wenn zwei alte Freunde etwas miteinander trinken? Sie erzählen sich Geschichten und versuchen, den anderen damit zu beeindrucken. Das Leben des Menschen dreht sich nur um Angeberei und Beeinflussung. Das ist gar nicht schlecht - wir sind sogar von dieser Haltung abhängig. Die wechselseitigen Manipulationen lehren uns, wie wir auf
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