Kinder des Wassermanns
Schreien. Zur Rechten erhob sich das Land steil mit dunkelnden Klippen, dazwischen waren in geschützten Tälern herbstgelbe Felder zu sehen. Auf Berggipfeln lag Schnee, und dahinter breitete sich ein eintöniges Glänzen aus, das von Inland-Eis sprach.
Die Geschwister richteten ihre Aufmerksamkeit hauptsächlich auf die Boote. Die Leute, die darin saßen, mußten auf der Jagd gewesen und nun nach Hause unterwegs sein; kein Inuit wohnte so weit südlich wie die Norweger. Der Umiak war ein großes Kanu, Leder über einem Rahmen aus Walknochen und Treibholz, von zwanzig Frauen gepaddelt. Zwanzig Kajaks begleiteten ihn, in jedem ein Mann. Die ganze Schar war lustig; ihre Rufe und ihr Gelächter übertönten das Schreien der Möwen und das Klatschen der Wellen. Tauno und Eyjan sahen, wie ein junger Bursche längsseits des großen Bootes ging und mit einer Frau sprach. Sie mußte seine Mutter sein, die ihr jüngstes Kind nährte, denn sie ließ das Paddel los, hob ihre Jacke und ließ ihn schnell einmal an ihrer Brust trinken.
Ein anderer Mann entdeckte die Schwimmer. Geschrei erhob sich. Wie Schwertklingen sausten die Kajaks auf sie zu.
»Bleib hinter mir, Eyjan«, sagte Tauno. »Halte deinen Speer unter der Oberfläche, bereit, ihn zu benützen.« Er selbst trat Wasser und hob wiederholt die Hände, um zu zeigen, daß sie leer waren. Seine Sehnen spannten sich.
Das Wasser schäumte, als der erste Kajak vor ihm anhielt. Der Mann darin hätte beinahe selbst ein Wassermann sein können oder vielmehr ein See-Zentaur, so sehr gehörten er und sein Fahrzeug zusammen. Die Haut, die es bedeckte, lag um seine mit Seehundfell bekleidete Mitte; er konnte mit dem Boot umschlagen, sich wieder aufrichten und dabei keinen Tropfen Wasser in die Stiefel bekommen. Ein Paddel schickte ihn über die Wellen wie einen dahingleitenden Kormoran. Eine Harpune lag griffbereit vor ihm; die luftgefüllte Blase tanzte.
Mehrere Herzschläge lang betrachteten er und die Halbblutgeschwister einander. Tauno versuchte, hinter das Erstaunen des anderen zu blicken und ihn als Mann abzuschätzen. Er war jung, von noch mächtigerem Bau als die meisten seiner kräftigen Gefährten, hübsch auf seine Art mit seinem breiten Gesicht, den kleinen Augen und dem groben schwarzen Haar. Unter Fett und Schmutz hatte seine Haut beinahe Elfenbeinfarbe. Nur die Andeutung eines Bartes war an ihm zu erkennen. Er erholte sich schnell und überraschte die Geschwister, indem er sie auf Norwegisch, wenn auch mit Akzent, fragte: »Seid ihr Ausgestoßene? Braucht ihr Hilfe?«
»Nein, ich danke dir, aber wir gehören hierher«, erwiderte Tauno. Das Dänisch, das er kannte, war der Sprache der Kolonisten genügend ähnlich – ähnlicher, als es Hauaus Dialekt gewesen war – , daß es keine Verständigungsschwierigkeiten geben sollte. Er lächelte und rollte sich herum, damit der Inuk ihn besser sehen konnte.
Dem Aussehen nach hätte er mit seiner Größe und seinen dicken Muskeln schon ein Norweger sein können, wären nicht seine Bartlosigkeit, die bernsteinfarbenen Augen und der grüne Schimmer in dem schulterlangen Haar gewesen. Aber kein erdgeborener Mensch hätte sich im Wasser nackt, nahe Grönland, im Herbst wohlgefühlt. Ein Stirnband, ein Gürtel, an dem zwei Obsidian-Messer hingen, und eine dünne Rolle geölten Leders, die unter einem Speer mit Knochenspitze an seine Schultern gebunden war, stellten seine ganze Kleidung dar.
Eyjan war ähnlich ausgestattet. Auch sie lächelte und verwirrte den Inuk.
»Ihr ... seid ...« Ein vielsilbiges Eingeborenenwort folgte. Es schien »Geschöpfe des Zaubers« zu bedeuten.
»Wir sind eure Freunde«, antwortete Tauno in dieser Sprache; nun war er es, der stockend sprach. Er nannte seinen und seiner Schwester Namen.
»Diese Person wird Minik genannt«, gab der junge Mann zurück. Er hatte Mut gefaßt, während seine Gefährten sich nervös in einiger Entfernung hielten. »Wollt ihr nicht an Bord des Umiaks kommen und euch ausruhen?«
»Nein ...« protestierte ein anderer.
»Sie sind keine von den Nachbarn«, stellte Minik fest.
Widerstrebend gaben die übrigen nach. Solch ein Mangel an Gastfreundschaft war bei ihrer Rasse unerhört. Auf Angst vor Hexerei konnte es nicht zurückzuführen sein. Sie lebten ja in einer Welt der
Geister, die immerzu besänftigt werden mußten, und hier waren nur zwei menschenähnliche Wesen, die nichts Bedrohliches an sich hatten und bestimmt wundervolle Geschichten zu erzählen wußten.
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