Kinder
»ich …«
»Doch, vor allem Sie sollten sich eine kleine Pause gönnen«, redete
ihr Dr. Romero gut zu. »Sie sehen aus, als könnten Sie eine brauchen.«
Rainer Pietsch nahm sie in den Arm, dann führte er sie hinaus. In
der Tür drehte er sich noch einmal um.
»Können wir die Fotos haben? Die von Michaels Verletzungen, meine
ich.«
Dr. Romero stutzte.
»Ja, aber das sind nur Ausdrucke.«
»Ich weiß, warum sagen Sie mir das?«
»Ich wollte nur, dass Sie wissen: Die eigentlichen Dateien bleiben
auf dem Krankenhaus-Server gespeichert.«
»Ja, natürlich«, antwortete Rainer Pietsch, und er wurde nicht ganz
schlau aus dem Blick, den der Arzt ihm zuwarf.
»Ich bringe sie Ihnen nachher in einem Umschlag in Michaels Zimmer,
okay?«, sagte Dr. Romero nach einer kleinen Pause.
»Danke, Herr Doktor.«
Damit gingen Rainer und Annette Pietsch davon. Dr. Romero sah ihnen
nach und versuchte, seine wild durcheinanderwirbelnden Gedanken zu ordnen.
Mertes las die Berichte wieder und wieder durch, aber er
musste zugeben, dass die Kollegen nichts Offensichtliches übersehen hatten.
Kinder und Jugendliche, die sich umbrachten, und tödliche Verkehrsunfälle mit
Fahrerflucht waren zum Glück selten, aber sie kamen vor. Und außer der
Tatsache, dass das Lehrerehepaar an beiden Schulen unterichtet hatte, konnte er
nichts finden, was dafür sprach, dass die Moellers in irgendeiner Form hinter
dem Tod der Schüler steckten.
Er dachte noch eine Weile nach, dann wählte er eine Nummer in Pelm.
»Wirsching?«, meldete sich die Mutter des Jungen, der vom Ziegenhorn
gestürzt war.
»Ich würde Sie gerne noch einmal treffen«, sagte Mertes. »Vielleicht
finden wir doch noch einen Ansatzpunkt, der uns hilft, Kais Tod aufzuklären.«
Es entstand eine Pause.
»Kai hat die Felskante nicht gesehen, deshalb ist er da
heruntergestürzt – so haben Sie es in Ihrem Bericht geschrieben.«
»Ich weiß«, sagte Mertes. »Aber Sie wissen auch, dass ich das noch
immer nicht wirklich glauben kann.«
Noch eine Pause.
»Ich auch nicht, aber irgendwie muss ich damit zurechtkommen,
irgendwann mal. Und wenn wir uns erneut unterhalten, kommt alles wieder hoch.
Ich bin mir nicht sicher, ob ich das wirklich will.« Mertes hörte die Frau schlucken.
»Und ob ich das alles noch einmal aushalte.«
»Ich versteh Sie ja, Frau Wirsching, aber …« Er horchte, sie war
noch dran. »Wollen wir es nicht noch einmal versuchen? Für Kai?«
Frau Wirsching sagte lange nichts, Mertes befürchtete schon, sie
werde auflegen. Schließlich kam die Antwort aber doch noch, kurz und knapp und
mit erstickter Stimme.
»Ja.«
Nach dem Gespräch mit Heike Römer und Karin Hohmann kamen
Annette und Rainer Pietsch nach gut einer halben Stunde wieder zurück ins
Krankenhauszimmer. Sarah stand am Fenster und sah hinaus, Lukas saß auf dem
Bettrand und hielt die Hand seines großen Bruders. Michael starrte noch immer
unbewegt an die Decke, aber man sah ihm an, dass es hinter seiner Stirn
arbeitete.
Annette Pietsch trat ans Bett, Lukas rutschte ein wenig zur Seite,
und sie setzte sich neben ihn, sehr darauf bedacht, ihrem Sohn nicht durch eine
unvorsichtige Bewegung Schmerzen zuzufügen. Rainer Pietsch stand einen Meter
entfernt vom Bett und sah zu Michael hin. Es drehte ihm fast den Magen um, wenn
er sah, wie sein Junge litt – die körperlichen Schmerzen wurden vermutlich von
Medikamenten ausreichend gedämpft, aber der verletzte Stolz eines fast
pubertierenden Jungen, die Schmach der Schläge und der Niederlage, vielleicht
auch die Angst vor viel Schlimmerem … Er erinnerte sich noch gut an seine
eigene Jugend und daran, wie sehr einem Jungen in diesem Alter selbst die
kleinste Demütigung wehtun konnte.
Die Tür wurde geöffnet, Dr. Romero kam herein, einen Umschlag in der
Hand.
»Die Fotos«, sagte er leise und hielt Pietsch den Umschlag hin.
»Danke.«
»Was haben Sie damit vor?«
»Es gibt Probleme in der Schule, und mit den Aufnahmen können wir
dem vielleicht ein Ende machen. Ihren Bericht bekommen wir dann auch noch, ja?«
»Natürlich«, nickte Dr. Romero. »Wird aber ein, zwei Tage dauern.
Wir wollten Michael ohnehin noch ein wenig dabehalten.«
»Darauf kommt es nun auch nicht mehr an.«
Annette Pietsch strich Michael leicht über die Wange, küsste ihren
Zeigefinger und tippte ihm damit kurz auf den Mund. Erschrocken schlug Michael
die Augen auf, sah dann zu seinem Vater und drehte mit einem abrupten Ruck den
Kopf zur Seite. Sein
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