Kinder
nicht übernahm.
Eine schriftliche Anfrage von Jonas Kray hatte sie gleich zerrissen.
Sie hatte das Schreiben des Anwalts wütend in kleine Stücke zerrupft, und sie
wunderte sich noch immer, warum Kray es wagte, sich nach der ekelhaften Szene
damals überhaupt bei ihr zu melden. Eine Zeit lang hatte sie ihr Gesicht in
ihren Händen vergraben, um die Erinnerung aus ihrem Gedächtnis zu verbannen,
doch dann hörte sie ihren Mann kommen und riss sich wieder zusammen.
Rainer Pietsch sah den zerfetzten Brief und warf Annette einen
fragenden Blick zu, ging dann aber gleich wieder hinaus, als er verstand, dass
sie nicht darüber reden wollte.
Rosemarie Moeller kam in das Besprechungszimmer. Rektor
Wehling saß schon am Tisch, außerdem sah sie einen Mann und eine Frau in der
Runde. Die beiden stellten sich auch der Lehrerin als Mitarbeiter des
Jugendamts vor und erklärten kurz, in welcher Angelegenheit sie das Gespräch mit
dem Schulleiter suchten – und dass Herr Wehling sie als eine der Lehrerinnen
des betreffenden Jungen zu dem Gespräch dazugebeten habe.
Rosemarie Moeller verkniff sich ein Grinsen und fragte dann mit
gespielter Besorgnis, was denn geschehen sei – und wie sie dem betreffenden
Jungen am besten helfen könnte.
»Erzählen Sie uns einfach, ob Ihnen an Michael in jüngster Zeit
etwas aufgefallen ist.«
»Nur an ihm – oder auch an seinen Eltern?«
Die Frau vom Jugendamt sah kurz zu Rektor Wehling, er lächelte nur
und nickte ihr bestätigend zu.
Michael blieb für die nächsten Tage zu Hause, mit seinen
Bandagen und den immer noch anhaltenden Schmerzen im Brustbereich wäre das
stundenlange Sitzen im Klassenzimmer eine Qual gewesen.
Nun lag er einfach auf seinem Bett und starrte an die Decke,
genauso, wie er es schon im Krankenhaus gemacht hatte. Ab und zu kam seine
Mutter herein, sah nach ihm oder brachte ihm etwas zu trinken oder zu essen,
aber die meiste Zeit über ließ sie ihn in Ruhe. Lukas und Sarah setzten sich
nachmittags manchmal zu ihm ans Bett, aber er hatte keine Lust, sich mit
irgendjemandem zu unterhalten, deshalb blieben sie nie besonders lange.
Wenn niemand im Zimmer war und er draußen im Flur oder auf der
Treppe keine Schritte hörte, tastete er sich manchmal ab und befühlte seine
blauen Flecken. Dann wanderten seine Finger weiter nach unten, wo ihn die Jungs
an besonders empfindlichen Stellen malträtiert hatten, und meistens liefen ihm
wenig später die Tränen übers Gesicht.
Dann hatte er wieder die Bilder vor Augen, wie er sich hinknien
musste und wie sich der Narbige direkt vor ihn gestellt und an seiner Hose
herumgemacht hatte.
Mein Gott, dachte Michael, wenn die das durchgezogen hätten …
Aber auch so war der Gedanke daran kaum zu ertragen. Ihm wurde übel,
er begann zu zittern, ihm war kalt und heiß zugleich. Und eines war klar: Das
durfte niemand jemals erfahren.
Im Stockwerk darunter ging Annette Pietsch gerade ins
Esszimmer. Sie sah blass aus und hielt einen Brief in der Hand.
»Was ist denn, Annette?«, fragte ihr Mann besorgt.
»Das Jugendamt hat sich angekündigt.« Sie hob den Brief hoch. »Sie
fragen, ob uns Freitagabend dieser Woche passt.«
»Das Jugendamt?« Rainer Pietsch sah verblüfft drein. »Was wollen sie
denn?«
Annette Pietsch hielt das Schreiben hoch und zitierte: »Im Zuge der
polizeilichen Ermittlungen wegen der Verletzungen Ihres Sohnes Michael halten
wir ein persönliches Gespräch nach Lage der Dinge für unverzichtbar.«
»Nach Lage der Dinge? Was wollen die von uns?«
Annette Pietsch zuckte mit den Schultern, sah ihren Mann lange an,
dann wandte sie sich weinend ab und ging mit dem Schreiben zurück ins
Wohnzimmer.
Sarah sah Rico aus den Augenwinkeln herantraben, und sie
beeilte sich, es noch in den Bus zu schaffen, bevor er sie erreichte.
»He, Sarah, warte doch mal!«
Aber Sarah hatte keine Lust, auf Rico zu warten. Der Typ nervte, und
im Moment zählte nur Hendrik.
An diesem Freitagabend war das Ehepaar Pietsch das erste
Mal seit dem Wochenende in der Vulkaneifel wieder unter sich. Lukas und Michael
waren am späten Nachmittag von den Großeltern abgeholt worden und würden erst
am Samstag wiederkommen. Sarah hatte sich mit einer Freundin verabredet: Sie
wollten zusammen ins Kino und Sarah würde anschließend bei ihr übernachten.
Annette Pietsch hatte Häppchen vorbereitet und eine alkoholfreie
Bowle angesetzt, Rainer Pietsch war abgekämpft aus dem Büro gekommen und wollte
nicht mehr von seinem Arbeitstag
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