Kinder
Messer kurz zu, grinste
noch breiter und stellte sich vor Michael auf. Er nestelte an seiner Hose –
dann trat er jedoch wieder einen Schritt zurück und zeigte auf den Jungen, der
Michael zuerst angemacht hatte.
»Komm her, du träumst doch am heftigsten von seiner Schwester, oder?
Das steht dir zu, komm!«
Rico rührte sich nicht. Erst als ihn der Typ mit dem Messer böse
anfunkelte, kam er langsam zu Michael herüber.
»Und jetzt die Hose!«, kommandierte der mit den Narben.
Rico stand starr, dann schüttelte er langsam den Kopf.
»Nee, so einer bin ich nicht.«
Dann holte er aus und schlug Michael mit der flachen Hand so heftig
ins Gesicht, dass er einfach umkippte. Er schlug mit der Schläfe hart auf den
Boden, überall hörte er Summen und Pfeifen, und nur wie durch dichten Nebel
hörte er die Beschimpfungen und Flüche der Jugendlichen über ihm und um ihn
herum. Was er aber genau registrierte, waren die Schläge und Tritte, ein paar
Mal spürte er auch zupackende Finger zwischen seinen Beinen, dann wieder
Tritte, und schließlich mischten sich in die Tiraden der Jugendlichen die
Stimmen zweier Frauen, die offenbar laut rufend auf die Jungen zurannten. Da
ließen sie endlich von ihm ab.
In Michaels Körper schmerzte und pochte es überall, dann sah er das
Gesicht einer Frau, die sich besorgt über ihn beugte. Und dann sah er nichts
mehr.
Rosemarie Moeller hatte die Szene eher zufällig
mitbekommen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite war sie gerade auf dem Weg
zu einem Laden gewesen, als Michael ein Stück weiter die Straße hinunter die
größeren Jungs traf. Sie hatte sich hinter eine Plakatwand gestellt und konnte
nun aus einiger Entfernung alles beobachten, ohne von der anderen Seite gesehen
zu werden.
Nachdem zwei Frauen die Jugendlichen in die Flucht geschlagen
hatten, wandte sie sich um und nahm einen Umweg, um nicht von dem am Boden liegenden
Michael erkannt zu werden. Sie hatte keine Lust, den Überfall zu bezeugen –
wenn schon etwas ohne ihr direktes Zutun hilfreich war, musste sie nicht
zwingend damit in Verbindung gebracht werden.
Annette und Rainer Pietsch hatten gerade den Tisch
gedeckt, als der Anruf aus dem Krankenhaus kam. Annette fuhr direkt hin, Rainer
wartete mit dem Wagen an der Bushaltestelle, wo Lukas und Sarah jeden Moment
ankommen mussten. Als schließlich die ganze Familie an Michaels Bett versammelt
war, strichen ihm alle vorsichtig über den bandagierten Arm und die
schmutzverklebten Haare, redeten beruhigend auf ihn ein oder kämpften mit den
Tränen.
Nur Michael selbst lag steif und stumm auf dem Rücken und starrte
unverwandt an die Decke. Die Lippen hatte er fest zusammengepresst, die Augen
schimmerten feucht, aber er sagte kein Wort und sah auch niemanden an.
Franz Moeller öffnete die Akte am PC und klickte einige Felder an, mit denen er die Entwicklung der einzelnen
Schüler verfolgte.
»Und was meinst du, wer dahintersteckt?«, fragte er schließlich.
»Schwer zu sagen«, meinte Rosemarie Moeller. »Tobias und Marc sind
mir als Erstes eingefallen – mit denen hat Michael ja immer wieder Ärger. Aber
dieser Rico war dabei, der immer Michaels Schwester Sarah nachschleicht. Vielleicht
hat sie ihn abblitzen lassen, und er wollte sich rächen.«
»An ihrem kleinen Bruder, weil er sich an sie selbst nicht
herantraut?«
Rosemarie Moeller zuckte die Schultern.
»Vielleicht kommt das ja auch noch.«
»Es ist nichts gebrochen, und es wurden keine inneren
Organe verletzt«, sagte Dr. Romero, der Michael in der Notaufnahme untersucht
und versorgt hatte. Er tippte auf einige großformatige ausgedruckte Farbfotos,
die an der Wand hingen. »Und das ist im Grunde genommen ein Wunder.«
Rainer Pietsch nickte, seine Frau versuchte die Aufnahmen näher zu
betrachten, musste sich aber sofort wieder abwenden, um nicht loszuweinen.
»Wären die beiden Frauen nicht zu Hilfe gekommen …«
Dr. Romero ließ den Satz in der Schwebe, aber Michaels Eltern
wussten auch so, was er hatte sagen wollen.
»Können Sie uns Namen und Telefonnummern der beiden geben?«, fragte
Rainer Pietsch. »Wir möchten uns gerne bedanken.«
»Die eine heißt Heike Römer und die andere Karin Hohmann. Sie sind
übrigens noch da. Ich habe sie in die Cafeteria eingeladen, sie wirkten sehr
mitgenommen. Vielleicht gehen Sie selbst auch kurz auf einen Kaffee hin, Michael
ist im Moment gut versorgt – und seine Geschwister sind ja bei ihm.«
»Nein«, protestierte Annette Pietsch,
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