Kinder
ihr das Wort
ab.
Er war aufgestanden, ballte die Fäuste und sah den Mann vom
Jugendamt geradezu hasserfüllt an.
»Bitte verlassen Sie jetzt unser Haus!«, sagte er, nicht allzu laut,
aber mit zornbebender Stimme. »Und zwar jetzt sofort!«
Sybille Lahnstein steckte den Arztbericht wieder zurück in die
Aktenmappe, nahm die Unterlagen auf und erhob sich langsam. Sie wirkte kühl,
achtete aber zugleich darauf, Rainer Pietsch nicht zu nahe zu kommen.
»Raus jetzt, alle beide!«
»Und wenn wir nicht gehen, vergessen Sie sich, nehme ich an?«, sagte
Sybille Lahnstein noch, dann wandte sie sich zusammen mit ihrem Kollegen zum
Gehen.
»Gehen Sie endlich!«
Er war nun recht laut geworden.
»Rainer, bitte!«, flehte ihn Annette Pietsch an und legte ihm eine
Hand auf die Schulter. »Das macht es doch nicht besser.«
»Da hat Ihre Frau absolut recht, Herr Pietsch«, sagte Sybille
Lahnstein von der Haustür her, dann sah sie die beiden noch einmal an und ging
kopfschüttelnd hinaus.
Annette Pietsch stand noch ein paar Minuten regungslos im Wohnzimmer
und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen.
»Alles in Ordnung, Annette?«, fragte Rainer Pietsch sie und ging zu
ihr.
Sie sah ihn an, dann nahm sie das Tablett mit den Häppchen.
»Nein, Rainer, nichts ist in Ordnung. Gar nichts.«
»Annette!«
Er machte eine Bewegung, als wolle er sie trotz des Tabletts in den
Arm nehmen. Aber Annette Pietsch trat einen Schritt zurück.
Gegen halb drei wälzte sich Mertes aus
dem Bett und tappte durch die dunkle Wohnung zur Toilette hinüber. Dort knipste
er das Licht an, erleichterte sich und sah beim Händewaschen in den Spiegel:
Bartstoppeln, tiefe Augenringe, fahle Haut und hängende Wangen – der vorige Abend hatte deutliche Spuren hinterlassen. In der
Küche trank er mehrere Gläser Wasser, schob sich ein paar Cracker in den Mund
und spülte mit noch mehr Wasser nach. Dann setzte er sich an den Küchentisch
und stützte den Kopf auf seine Hände. Über dem ganzen Ärger mit seinem Vorgesetzten
hatte er vergessen, den Pietschs die letzte Info durchzugeben, auf die er vor
seiner Beurlaubung noch gestoßen war: eine Telefonnummer in Bayern, deren
Vorwahl mit 093 begann. Mertes hatte dort gestern Abend von zu Hause aus
angerufen. Er hatte es lange klingeln lassen, und schließlich meldete sich ein
Mann mit voller, aber schon etwas älter wirkender Stimme. Er hatte keinen Namen
genannt, sondern nur » Ja? « ins Telefon gesagt, dann gewartet und schließlich, als Mertes nichts sagte,
einfach wieder aufgelegt – aber als Kripobeamter
hätte er der Nummer sicher schon in ein, zwei Tagen einen Namen und eine
Adresse zuordnen können. Diese Möglichkeit war ihm nun verwehrt, aber
vielleicht konnte ja das Ehepaar Pietsch mehr dazu herausfinden. Oder es würde
ihm selbst gelingen, über einen Kollegen, zu dem er privat einen guten Draht
hatte, doch noch an die Information zu kommen, wem der Anschluss gehörte.
Nun war es schon nach drei, aber an Schlaf war
für Mertes nicht zu denken. Alles ging in seinem Kopf durcheinander, und immer
wieder sah er die Fotos aus den Kinderausweisen vor sich, von all den jungen
Toten, die ihn nicht losließen. Er fuhr seinen PC hoch und gab in einem
Auskunftsportal auf gut Glück die mit der Vorwahl 093 beginnende Telefonnummer
ein – kurz danach hatte er auch schon einen Namen und
eine Adresse vor sich auf dem Monitor. Dass er so einfach an die Information
kommen würde, hätte er nicht gedacht – wo doch
inzwischen viele ihre Anschlussdaten für solche Portale sperren ließen.
Schließlich schnappte er sich seine Jacke, den
Schlüssel und das Handy. Er steckte den Zettel mit der 093er-Telefonnummer, dem
Namen und der Adresse in seine Hosentasche. Dann ging er hinunter, stieg in
seinen Privatwagen und drehte den Zündschlüssel. Die Batterie war nicht mehr
die beste, aber nach einer Weile sprang der Wagen an. Mertes, der durchaus noch
die Nachwirkung des Alkohols vom Vorabend spürte, legte den ersten Gang ein und
fuhr los. Er musste sich konzentrieren, um den Wagen gerade zu halten und nicht
aus der Spur zu fallen. Den Geländewagen, der kurz nach ihm losfuhr und ihm in
einigem Abstand folgte, bemerkte er nicht.
Zunächst fuhr Mertes nur ziellos durch die
Gegend, dann schlug er die Richtung nach Pelm ein. Er folgte der A1 nach
Norden, dann der Landesstraße nach Westen – den Weg
kannte er gut, so war er gewöhnlich auch zum Internat Cäcilienberg gefahren und
in letzter Zeit ein paar
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