Kinder
über den Kopf.
»Setz dich ruhig wieder, du hast alles richtig gemacht.« Verwirrt ging er zu
seinem Platz zurück und setzte sich. »Nehmt euch an Michael ein Beispiel,
Kinder. Er ist derzeit in einer sehr schwierigen Situation, er hat es nicht
leicht, gerade mit seinen Eltern – und trotzdem arbeitet er gut in der Klasse
mit und ist aufmerksam und lernbereit.«
Sie sah Michael freundlich an, aber der Junge wäre unter ihrem Blick
am liebsten im Boden versunken. Jeder Satz, jedes Wort hatte ihn wie ein
Peitschenhieb getroffen. Er hatte längst die Gerüchte aufgeschnappt, denen zufolge
er Verletzungen zwischen den Beinen hatte – und dass ihm dort sein Vater Gewalt
angetan hätte. Was hatte Rosemarie Moeller denn nur davon, ihn vor der ganzen
Klasse auf diese erniedrigende Weise bloßzustellen?
Annette Pietsch erstarrte, als sie seinen Namen hörte.
»Jonas Kray, hier, hallo Frau Pietsch.«
Sie sagte keinen Ton, und ihr erster Reflex war, gleich wieder
aufzulegen. Mit diesem Widerling wollte sie nichts mehr zu tun haben. Sofort
war die Szene in seinem Büro wieder präsent.
»Ich hatte Ihnen eine Anfrage wegen eines Cateringauftrags
geschickt, und Sie haben bisher noch kein Angebot abgegeben.«
»Ich will auch …«
»Nun, Frau Pietsch, ich habe ja viele Kontakte hier in der Stadt,
und was mir da zu Ohren gekommen ist …«
Er ließ den Satz bedeutungsschwer in der Luft hängen.
»Herr Kray, das …«
»Ich will mich an solchen Gerüchten auch gar nicht beteiligen, Frau
Pietsch, und Sie tun mir ja durchaus leid. Sie können ja nichts für das, was
Ihr Mann so anstellt, aber … na ja: Es ist gut, dass Sie sich noch nicht die
Mühe gemacht haben, ein Angebot aufzusetzen. Ich möchte unter den gegebenen
Umständen meine Anfrage doch lieber wieder zurückziehen.«
»Ich …«, begann Annette Pietsch, aber er ließ sie gar nicht zu
Wort kommen.
»Man hat als Anwalt schließlich einen Ruf zu verlieren, Sie
verstehen?« Er machte eine Pause, Annette Pietsch hörte förmlich, wie sich ein
Grinsen auf sein Gesicht legte. Dann legte er auf.
»Diese miese Ratte!«, schoss es Annette Pietsch durch den Kopf. Wie
gerne hätte sie ihm an den Kopf geworfen, dass sie seine Anfrage sofort
zerrissen hatte und dass sie ihm nicht für alles Geld der Welt auch nur ein
Brot schmieren würde. Aber aus dem Hörer drang nur noch das Freizeichen, und
sie warf das Mobilteil auf die Couch und ließ sich schluchzend auf den Boden
sinken.
Als er am nächsten Abend nach Hause kam, war Rainer
Pietsch noch schlechter gelaunt als an den Abenden zuvor. Die Tasche flog
geräuschvoll ins Eck, die Schuhe hinterher, und dann ließ er sich auf einen
Stuhl am Esstisch sinken.
Lukas hatte seinen Vater hereinkommen gehört, als er gerade vom Bad
in sein Zimmer wollte. Er kam herunter, setzte sich seinem Vater auf den Schoß
und fühlte, wie Rainer Pietsch sofort erstarrte.
»Geh mal lieber runter«, sagte er und schob Lukas zu dem
benachbarten Stuhl hin.
»Was ist denn, Papa?«
»Ach, ich …« Er schloss die Augen, rieb sich die Schläfen, fuhr
sich durchs Haar. »Ich hatte Ärger im Büro.«
»Schlimm?«
»Na ja«, machte er und zuckte mit den Schultern.
Lukas stand auf, gab ihm noch einen Gutenachtkuss und ging nach
oben. Annette Pietsch saß im Wohnzimmer und las. Sie hatte ihren Mann ebenfalls
gehört, hatte aber keine Lust auf seine schlechte Laune – und außerdem war sie
sich im Moment nicht sicher, ob sie ihre Freizeit mit ihm verbringen wollte.
Ohnehin war sie sich in nichts mehr sicher, wenn es um ihn ging.
Rainer Pietsch holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank, hängte sein
Jackett weg und zog aus der Innentasche den Brief, den ihm heute sein
Abteilungsleiter überreicht hatte. Darin stand sinngemäß, dass er als bewährter
Mitarbeiter gerne wieder in den Dienst zurückkommen könne, wenn die Vorwürfe
gegen ihn wegen der Verletzungen seines Sohnes Michael aufgeklärt wären und er
wieder entlastet sei.
Morgen jedenfalls konnte er sich in Ruhe um den Garten kümmern.
Schließlich tagte der Familienrat. Annette Pietsch hatte
es nicht mehr länger mit ansehen wollen, wie die Kinder zunehmend irritiert
wirkten und sie und ihren Mann immer wieder vergeblich fragten, was eigentlich
los sei.
Sie versammelten sich um den Esstisch, Michael fehlte. Die Eltern
wirkten nervös und wussten offensichtlich nicht so recht, wie sie das Gespräch
eröffnen sollten.
»Ihr fragt euch wahrscheinlich, was hier bei uns vor sich
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